Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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„Der Müller und die Seinigen sind noch rechtzeitig in das Dorf geflüchtet, aber dort wird ja auch jeden Augenblick das Schlimmste erwartet. Man giebt die Hoffnung auf, da all die Rettungsarbeiten umsonst sind.“
Der Freiherr erwiderte nichts, er begann nur heftiger auf- und niederzuschreiten.
Der Haushofmeister schickte einen bittenden Blick zu Frau von Hertenstein hinüber, dann begann er von Neuem zögernd:
„Ich wollte nach den Befehlen des gnädigen Herrn fragen, wenn – wenn das Aeußerste eintritt. Es flüchtet bereits Alles, und die Menschen schleppen mit sich, was sie von ihrem Hab’ und Gut nur tragen können. Der Schloßberg ist ihre einzige Zuflucht, aber die Weiber und die kleinen Kinder in dem strömenden Regen –“
„Oeffnen Sie die Meierei und die unteren Räume des Schlosses,“ befahl Raimund mit sichtlicher Ueberwindung. „Was die Menschlichkeit verlangt, werde ich nicht versagen.“
Der Haushofmeister ging und im Zimmer trat jetzt Schweigen ein. Raimund vermied es, dem Blicke Anna’s zu begegnen, er wußte, was dieser Blick von ihm forderte, obgleich sie kein Wort sprach.
Das Sturmgeläut war verstummt, und auch in dem Regen trat eine augenblickliche Pause ein, man vernahm nichts als das Toben des Flusses, das immer lauter anschwoll. Vielleicht hatten die Dorfbewohner wirklich die Rettungsarbeiten aufgegeben und dachten nur noch an Flucht.
Schon nach wenigen Minuten wurde die Thür wieder geöffnet und der Diener brachte ein zusammengelegtes Blatt, das er dem Freiherrn übergab.
„Von dem jungen Herrn Baron! Er hat soeben einen Boten heraufgesendet.“
Es war ein Blatt, welches Paul aus seinem Notizbuche gerissen hatte. Es enthielt nur wenige mit Bleistift geschriebene Zeilen:
„Die Brücke ist fortgerissen und die Flut steigt noch fortwährend, in einer Stunde muß sie das Dorf erreicht haben. Ich habe die Flüchtenden angewiesen, sich auf den Schloßberg zu retten, ich weiß, Du wirst den Unglücklichen diese Zuflucht nicht versagen. Sie retten nur das Leben – denn Werdenfels ist verloren!“
Raimund hatte gelesen und übergab das Blatt jetzt stumm der jungen Frau, die es gleichfalls überflog.
„Werdenfels ist verloren!“ wiederholte Anna. „Nun, Raimund –?“
Er sah sie an, die Augen Beider begegneten sich einen Moment lang, dann strich der Freiherr mit der Hand über die Stirn, als wolle er dort etwas auslöschen, und richtete sich wie mit einem plötzlichen Entschlusse auf.
„Meinen Mantel!“ rief er dem Diener zu. „Schnell! Ich will in das Dorf hinunter!“
„Gott sei Dank! Ich wußte es ja!“ brach Anna aus, indem sie ihm beide Hände entgegenstreckte.
Er zog die Hände an seine Lippen, aber seine Stimme hatte einen düsteren Klang, als er antwortete:
„Was hoffst Du denn? Kann ich, ein Einzelner, die Gefahr abwenden?“
„Ich weiß es nicht,“ sagte die junge Frau mit einem tiefen Athemzuge, „aber mir ist, als müßtest Du es können. Jedenfalls begleite ich Dich.“
„Bei diesem Unwetter? Bleibe zurück, Anna, ich bitte Dich.“
„Nein. Du hast es erkannt, wo Dein Platz jetzt ist, und der meinige ist an Deiner Seite. Ich gehe mit Dir!“
„So komm!“ sagte Raimund entschlossen, indem er den Arm um sie legte. „Wir wollen sie in der Noth nicht allein lassen!“ –
Werdenfels lag bekanntlich in der Oeffnung des Thales, aus dem der Bergstrom hervorbrach, es war die erste Ortschaft, die er auf seinem Wege fand, und also am meisten gefährdet. Droben im Gebirge konnte sich die entfesselte Fluth nur gegen Felsen und Wälder werfen, und die riesigen Steine, die entwurzelten Bäume, welche sie mit sich führte, zeigten, wie unheilvoll sie dort gewüthet hatte, hier begann ihre Zerstörung an den Menschenwerken.
Die große massive Brücke oberhalb Werdenfels, die bisher noch jedem Hochwasser Widerstand geleistet hatte, war das erste Opfer geworden. Von den mächtigen gemauerten Pfeilern standen nur noch zwei, die, geborsten und wankend, jeden Augenblick dem Anpralle der Wogen zu erliegen drohten, und auf ihnen lag, wie Splitter zusammengebrochen, ein Theil des Balkenwerkes, alles Andere hatte das Wasser mit sich genommen.
Die Bergstraße, welche hier in das Thal mündete, war vollständig zerrissen, eine kleine Waldung der Gemeinde, die anfangs noch einigen Schutz gewährte, niedergeworfen und überfluthet. Wie dürre Reiser waren die grünen Tannen geknickt und fortgeschleudert, und über ein Chaos von Baumstämmen, Schlamm und Steinen stürzte das Wasser hinweg.
Die Bachmühle war verschwunden, über die Trümmerstätte schäumte der Bach, sonst ein schmales murmelndes Wässerchen, das sich wie ein blinkendes Silberband an den Schloßberg schmiegte, jetzt ein tosender Fluß, welcher sich weiter unten in den Strom stürzte.
Den furchtbarsten Anblick aber bot der Strom selbst, der seine bläulich grünen Wellen sonst so lustig zu Thal führte. Jetzt wälzte er sich dahin wie eine riesige braungelbe Schlange, brüllend und schäumend, und auf seinem Wege lag das Verderben!
Hoch auf spritzten die dunklen Wogen, die in wilder Flucht dahinjagten. Felsblöcke, Bäume, Balkentrümmer tauchten bald empor aus dem rasenden Wirbel, bald verschwanden sie wieder darin, oder sie warfen sich mit wüthender Gewalt gegen die Ufer, und das nachstürzende Erdreich erweiterte immer mehr den unheilvollen Lauf, während die Steine auf dem Grunde rollten und krachten, als würden Hunderte von Schüssen abgefeuert. Dieser Fluth konnte nichts widerstehen; was sie überhaupt erreichte, das war auch dem Untergange geweiht.
Im Dorfe herrschte eine furchtbare Aufregung. Man hatte im Vertrauen darauf, daß bisher noch jedes Hochwasser glücklich vorübergegangen war, dem Wachsen des Stromes mit ziemlicher Ruhe zugesehen. Erst die letzte Nacht hatte den Sorglosen die Nähe und Größe der Gefahr gezeigt, und jetzt freilich stürzte Alles zur Hülfe herbei. Wer nur die Arme regen konnte, der setzte auch seine vollste Kraft ein, vom reichsten Bauer an, dessen Hof auf dem Spiele stand, bis herab zum ärmsten Tagelöhner, der seine elende Habe vertheidigte, sogar die Frauen halfen, so viel sie konnten, sie waren ja Alle gleich gefährdet.
Seit Tagesanbruch rangen die Menschen verzweiflungsvoll mit dem entfesselten Elemente, und bis gegen Mittag schien es auch, als werde es möglich sein, das Dorf zu halten, aber mit jeder Stunde, wo der Tag sich abwärts neigte, schwand die Hoffnung mehr. Und all die Hunderte, die da in Angst und Hast arbeiteten, daß ihnen der Schweiß von der Stirn rann, hatten nur einen Gedanken, der sich bald in lautem Jammer, bald in dumpfem Grolle Luft machte:
„Hätten wir jetzt die Dämme!“
Diese Schutzdämme, die man mit Haß und Hohn zurückgewiesen hatte, weil es der Felsenecker war, der sie aufführen wollte, sie wären die Rettung des Dorfes gewesen, jetzt schützten sie nur das Gebiet des Schloßherrn allein. Das Schloß freilich stand sicher auf seiner Höhe, aber der Park, die weiten Gärten und die ganzen Werdenfels’schen Besitzungen dort in der Thalsenkung wären verloren gewesen ohne diesen Schutz.
Sie lagen oberhalb des Dorfes und waren dem ersten Anprall der Wogen preisgegeben, dort mußte der Strom zuerst einbrechen. Aber der alte Freiherr hatte nicht umsonst die ganze Ausdehnung des Parkes mit den Mauern umzogen, die mit ihrem Rasen und ihren Gesträuchen so malerisch erschienen, als seien sie nur ein Schmuck der Gärten, jetzt trotzten sie wie eine Festung dem andringenden Feinde. Zischend und schäumend, aber ohnmächtig schlug die Fluth an diese Steinwände; was hinter ihnen lag, das war sicher geborgen.
Hätte das Dorf wenigstens die hohen Erdwälle gehabt, mit denen der Gutsherr es einstweilen vor einer nahen Gefahr schützen wollte! Es wäre nicht allzu schwer gewesen, die schon vorhandenen Dämme zu sichern und zu halten; sie in wenigen Stunden zu schaffen erwies sich als ein Ding der Unmöglichkeit, und dennoch wurde es versucht.
Was nur von Bäumen in der Nähe war, fiel unter der Axt, Steine wurden herbeigerollt, Erde herangeschleppt und aus
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 430. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_430.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2024)