Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Asyle für Obdachlose, die Volksküchen für Hungrige, die mit allen möglichen Hülfsmitteln glänzend ausgerüsteten Lazarethe für Kranke, die Spitäler für Blinde und Taube? Hat nicht dieses Jahrhundert den Wahnsinnigen, welche frühere verblendete Zeiten dem Scheiterhaufen oder den Peitschenhieben eines rohen Aufsehers auslieferten, jene vom echten Geist der Humanität durchwehten Irrenhäuser geöffnet?
Wohl thront heute die Vernunft über unseren Entschlüssen und Thaten, aber mit ihrer Herrschaft ist das Bewußtsein der Menschenwürde zur volleren Reife gelangt, und mit ihm hat die Nächstenliebe nur um so festere Wurzeln in den Herzen der Aufgeklärten geschlagen.
Ein Gang durch die Hygiene-Ausstellung in Berlin führt uns auf jedem Schritt laute Verkünder dieser Ansicht entgegen. Schutz für Kinder, Schutz für Arbeiter, Rettung für Verunglückte, das sind die Schlagwörter, die uns von allen Seiten entgegenleuchten. Es wäre in der That lehrreich, neben dieser Ausstellung eine andere des Rettungswesens in einem der früheren Jahrhunderte zu errichten, man würde dann vergleichen und seltsame Schlüsse ziehen können. Man würde zu der Ansicht gelangen, daß die Barmherzigkeit und Opferfreudigkeit früherer Zeiten zu denen der heutigen Tage sich nicht anders verhalten, wie die Almosenspenden eines Kindes oder von Mitleiden gerührten Jünglings zu der thatkräftigen Hülfe des besonnenen Mannes. Durch alle die Werke des Samariterthums, gleichviel welchen Namen sie tragen, welche uns die Berliner Ausstellung vorführt, zieht sich ein Gedanke: das berechnende Nützlichkeitsprincip, das mit den geringsten Mitteln die größten Erfolge zu erzielen strebt. Darum ist heute der Gang unter den Bogen der Berliner Stadtbahn neben dem Lehrter Bahnhof auch vom allgemein menschlichen Standpunke so überaus lehrreich, denn er zeigt uns die Werke der Moral des neunzehnten Jahrhunderts, von dem man behauptet, daß es sich von aller Moral losgesagt hat und die Völker der Verwilderung des Herzens zutreibt – diese Ausstellung ist in der That eine gewaltige Rechtfertigungsschrift für unsere Zeit, ein Buch, welches auf jeder seiner Seiten die Idealisten und vom Weltschmerz ergriffene Schwärmer Lügen straft.
Blättern wir in demselben!
Wir führen unsere Leser zunächst vor die Gruppe, welche den officiellen Titel: „Verkehr auf dem Wasser“ trägt. Da fällt uns sofort in’s Auge die interessante Ausstellung der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“. Ihr Name ist wohlbekannt im deutschen Vaterlande, denn wer kennt nicht ihre Entstehungsgeschichte, wer nicht die Heldenthaten ihrer Mitglieder? Wem sollte es nicht bekannt sein, daß diese Gesellschaft durch ihre Vertreter der wahren Nächstenliebe zum Siege verhalf unter den rauhen Bewohnern der Seeküsten, deren Eltern noch einen „günstigen Strand“, das heißt möglichst viele gestrandete Schiffe, in ihren Kirchen vom Himmel erflehten? Was wir dort sehen, ist uns schon von früher her zum großen Theil bekannt. Da sind die Rettungsboote, die Schwimmgürtel, die Bojen, die wir sofort nach ihrer Erfindung unsern Lesern in Bild und Wort vorgeführt haben.
Aber aus der Masse dieser Rettungsapparate taucht bei näherer Betrachtung manches Neuere und weniger Bekannte auf, und diesem wollen wir vornehmlich unsere Aufmerksamkeit schenken.
Ein alter Bekannter winkt uns entgegen: ein Rettungsboot, aus cannelirtem Eisen gebaut und zum Rudern und Segeln eingerichtet. Wir wissen ja schon, daß das Material, aus welchem dieses Fahrzeug gebaut ist, sich von dem Holze, aus dem man früher alle Böte zimmerte, durch viele Vorzüge unterscheidet. So ein hölzernes Boot wird bei
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 424. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_424.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2024)