Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
|
Er wollte die beiden Damen nach Rosenberg geleiten, aber als man im Thale anlangte, zeigte es sich, daß die Brücke, die dort über den Strom führte, nicht mehr sicher war. Sie wankte bereits unter den anstürmenden Fluthen und man durfte es nicht wagen, sie zu passiren. Es blieb nichts übrig, als einstweilen nach Werdenfels zu fahren, das auf dem diesseitigen Ufer lag, die Verbindung mit der anderen Seite war vorläufig abgeschnitten.
Es war am Tage nach der Ankunft. Raimund befand sich mit seinen Gästen und mit Paul, der soeben von Buchdorf gekommen war, in dem Salon, wo das Bild des verstorbenen Freiherrn hing. Draußen wühlte der Sturm in den Baumwipfeln des Parkes, und der Regen schlug in schweren Tropfen gegen die Fenster. Aber das Sausen des Windes und das Plätschern des Regens wurden übertönt von einem Brausen und Toben, das aus furchtbarer Nähe herüberdrang. Es war der Strom, den man sonst nur dumpf in der Ferne hörte.
„Es sieht entsetzlich aus da unten in Werdenfels,“ berichtete Paul, der bei seiner Ankunft durch das Dorf gekommen war. „Das Wasser steigt mit jeder Minute und damit auch die Todesangst der bedrohten Menschen. Sie kämpfen mit der Energie der Verzweiflung gegen die andringende Fluth, aber ich fürchte, sie kämpfen vergebens.“
„Sie scheinen die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt zu haben,“ sagte Anna. „Noch gestern, als wir von Felseneck kamen, hieß es, das Dorf wäre nicht gefährdet, es sei das gewöhnliche Frühlingswasser, das nie ernstlichen Schaden anrichtet. Erst die Nacht muß das Unheil gebracht haben! Was meinst Du, Raimund?“
Raimund, der am Fenster stand, wendete sich langsam um.
„Ich meine, daß wir auf Alles gefaßt sein müssen,“ erwiderte er. „Ich habe ja stets den Frühling über in den Bergen verlebt, aber noch niemals habe ich ein so plötzliches Thauen der Schneemassen und ein so wildes Losbrechen der Bergwasser gesehen, und dazu dieser endlose Regen seit drei Tagen und Nächten! Bricht der Strom wirklich seine Ufer, dann ist das Dorf rettungslos verloren.“
Wie zur Bestätigung seiner Worte drangen jetzt dumpfe, eherne Klänge vom Dorfe herüber – Glockenklänge. Die Kirche von Werdenfels läutete Sturm, sie gab das Nothzeichen nach allen Richtungen hin.
„Wie schauerlich das klingt!“ flüsterte Lily ängstlich.
Auch Paul lauschte den unheimlichen Klängen, auf einmal aber stand er auf und trat zu dem Freiherrn.
„Raimund, die Werdenfelser haben es nicht um Dich verdient, daß wir uns noch um ihr Wohl und Wehe kümmern, und daß Du Dich nicht mehr im Dorfe zeigst, nach dem was geschehen ist, das ist selbstverständlich. Aber ich kann trotz alledem nicht ruhig hier im Schlosse bleiben, während die Gefahr da unten immer höher steigt. Laß mich hinunter! Ich will wenigstens sehen, wie es steht, und schicke Dir Nachricht herauf.“
„So geh!“ sagte Raimund kurz und ernst.
„Um Gotteswillen, Paul, willst Du Dich auch in Gefahr begeben?“ rief Lily erschrocken.
„Für mich ist gar keine Gefahr vorhanden,“ beruhigte sie Paul. „Der Einzelne kann ja hier überhaupt nicht eingreifen. Gott sei Dank, daß wenigstens mein Buchdorf sicher ist, da ist kein Wildwasser in der Nähe!“
Das junge Mädchen widersprach nicht länger, sondern hing sich an seinen Arm und begleitete ihn hinaus bis zum Schloßthor, während die beiden Anderen zurück blieben.
Anna hatte ihren Platz nicht verlassen, aber ihr Blick suchte Raimund, der wieder an das Fenster getreten war. Freilich, es war selbstverständlich, daß er im Schlosse blieb, seine Stirn trug ja noch das blutrothe Zeichen des Empfanges, den seine Werdenfelser ihm bereitet hatten, als er es einmal wagte, sich in ihrer Mitte zu zeigen. Wenn er das von Neuem versuchte, so hieß es vielleicht, der Felsenecker habe das Unglück auf das Dorf herabbeschworen, um sich zu rächen. Es war nur gerecht, wenn er die Verblendeten jetzt ihrem Schicksal überließ, und doch lag etwas wie Vorwurf in dem Blicke der jungen Frau.
„Gott gebe, daß die Gefahr vorübergeht!“ sagte sie gepreßt. „Wenn das Verderben wirklich hereinbricht, was wird dann aus dem unglücklichen Dorfe und – aus Gregor?“
„Der Pfarrer?“ fragte Raimund mit Bitterkeit. „Nun, der hüllt sich in sein unfehlbares Priesterthum und fordert seine Gemeinde auf, sich dem Willen des Herrn zu beugen. Werdenfels wäre geschützt und in Sicherheit ohne sein Eingreifen, das weiß er, so gut wie wir Alle, aber er hilft sich mit einem Gebete darüber fort.“
„Nein, nein, Du kennst Gregor nicht. Was er auch gethan, wie schwer er geirrt haben mag, er hat immer das unerschütterliche Bewußtsein seines Rechtes gehabt. Fällt das Dorf wirklich zum Opfer durch seine Schuld, so ist das für ihn mehr als Vernichtung.“
„Ich glaube, Du traust ihm mehr Herz zu, als er besitzt. Doch gleichviel, er hat mich so erbarmungslos gerichtet, nun mag er sich selbst richten.“
Bilder aus der Hygiene-Ausstellung.
Die „kalte, unerbittliche Vernunft“ thront über den Entschlüssen und Thaten der Völker des neunzehnten Jahrhunderts. Praktisch! Praktisch! ist die Losung, welche in dem Leben der heutigen Tage allgemeine Geltung findet. Vergebens suchen wir nach den Aeußerungen jener Schwärmerei, die noch vor wenigen Jahrzehnten die Gemüther beherrschte und selbst im politischen Wirken den idealen Gefühlen die Oberhand verlieh. Kühl, vernünftig ist heute die Politik, welche die Diplomaten und die Völker zur Richtschnur ihres Handelns wählen, ein eisiger Verstandeshauch weht durch die moderne wissenschaftliche Forschung, ein frostiger Realismus beherrscht selbst das blüthenreiche Gebiet der Künste. Fast scheint es, als ob in diesem großen Kampfe um’s Dasein, welchen die Völker und Menschen führen, kein Raum da wäre für die milderen Regungen des Herzens.
So wehklagen wenigstens die Feinde des Fortschritts, so greifen sie an die Resultate der freien Forschung, welche die Concurrenz, den Kampf um’s Dasein und ähnliche Gesetze als leitende Mächte in der Entwickelung der Menschheit erkannt hat, und indem sie sich für die alleinigen Apostel der wahren Menschenliebe ausgeben, suchen sie vor den Augen der Menge den freien Geist der Neuzeit ob seiner Herzlosigkeit in den Staub herabzuziehen.
Aber sie sind in blindem Wahne befangen, und schwarze Verleumdung ist ihre Rede. Denn niemals wahrlich hat die Nächstenliebe schönere Werke gezeitigt, als in unserem Jahrhundert, niemals wehte so hoch über allen Völkern des Erdenrunds das reine Panier der Barmherzigkeit.
Ist es denn nicht diese von freier Geistesforschung beherrschte Zeit gewesen, welche durch das Genfer Kreuz die Schrecken der blutigen Kriege milderte? Verdanken wir ihr nicht die zahllosen
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 423. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_423.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2023)