Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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‚So geh denn, Feigling,‘ sagte er, mit einem Tone, der mein Blut sieden machte. ‚Du bist wohl froh, einen Vorwand zur Flucht zu finden, Du brachtest ja schon vorhin die Mauerpforte in Vorschlag. Du willst Dich vor allen Dingen in Sicherheit bringen, das sieht Dir ähnlich. Du bist kein Werdenfels, bist es nie gewesen. Geh, gieb Dein Stammschloß preis, verlaß Deinen Vater in der Todesgefahr und rette Dich nach dem sicheren Buchdorf, aber merke es Dir, einen Sohn, welcher in solcher Stunde mir und der Gefahr feige den Rücken kehrt, kenne ich nicht mehr!‘
Das war mehr, als ich ertragen kannte, ich sah es an seinem Gesicht, daß er mir wirklich die Feigheit, die Erbärmlichkeit zutraute, von der er sprach. Und wenn ich trotz alledem die That hinderte, so war mir vermuthlich die Rückkehr unmöglich, und es gab dann keine Rettung mehr für die Eingeschlossenen. Mein Vater fiel in die Hände der Wüthenden und das Schloß mit ihm.
Das alles stürmte auf mich ein. Frage mich nicht, wie ich gekämpft habe, es war die dunkelste Stunde meines Lebens. Wenn ich hinuntereilte, wenn ich der Menge draußen ein einziges Wort zuschleuderte, so war das Dorf gerettet, aber ich blieb und schwieg – und Werdenfels verfiel seinem Schicksal!“
Raimund hielt inne und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, die von kaltem Schweiß bedeckt war, erst nach einer Pause fragte er:
„Begreifst Du es nun, daß ich nicht Nein sagen konnte, als Du mich fragtest, ob ich mitschuldig sei an jenem Unglück?“
„Ja,“ sagte Anna leise.
Sie hob das Auge zu ihm empor, noch scheu und zögernd, aber nur einen Moment lang, dann warf sie sich mit leidenschaftlicher Innigkeit an seine Brust. Er verstand die Antwort auf sein Bekenntniß und wortlos, aber mit tiefem Aufathmen schloß er seine Braut in die Arme.
„Du weißt, wie entsetzlich jener Brand gewüthet hat, und um welchen Preis das Schloß gerettet wurde,“ fuhr Werdenfels endlich fort. „Selbst mein Vater stand entsetzt vor diesem schrecklichen, nicht gewollten Ausgang. Ich ertrug nicht den Anblick der rauchenden Trümmer, ich warf mich auf das Pferd und jagte davon, hinein in die Berge, bis das Thier erschöpft unter mir zusammenbrach. Ich fühlte keine Erschöpfung, die Flammen da unten im Thale jagten mich weiter, immer höher hinaus durch unwegsame Klüfte, bis in die Schneefelder der Geisterspitze. Erst als mich ringsum Eis und Nacht umgab, kam die ersehnte Ruhe. Die Eisjungfrau legte ihre kalte Hand auf meine Brust, und ich verlor die Besinnung.“
„Du hast eine schwere Krankheit davon getragen? Ich hörte es!“
„Ja, und als ich kaum genesen war, verließen wir Werdenfels, wo die bedrohlichsten Gerüchte umgingen. Die verzweifelnden Menschen, die Alles verloren hatten, ahnten den Zusammenhang, obgleich jeder Beweis fehlte.
Sie kannten meinen Vater, und mein Verschwinden unmittelbar nach dem Brande, meine schwere Erkrankung lenkten den Argwohn auf mich. Es hieß, der Vater habe die That befohlen und der Sohn sie ausgeführt. Ich hatte die Empfindung, als hätte ich das wirklich gethan!
Das Verhältniß zu meinem Vater war auch für mich unhaltbar geworden. Er sah es, daß ich das Geschehene nicht überwinden konnte, ich war ihm eine peinigende Erinnnerung daran, und so willigte er denn in die Trennung. Ich ging auf die Universität, ich ging auf Reisen und streifte freudlos und friedlos durch die Welt, bis ich Dich fand – um Dich wieder zu verlieren!“
„Warum schwiegst Du gegen mich?“ sagte die junge Frau vorwurfsvoll. „Warum mußte ich von Gregor hören, was nur Deine Lippen mir sagen durften? Dein langes Schweigen war es, was Dich am schwersten anklagte in meinen Augen.“
„Weißt Du, was es heißt, ein ganzes Leben voll Einsamkeit und Weh zu tragen und dann einmal, zum ersten Male glücklich zu sein? Ich fürchtete mein Glück und Deine Liebe zu verlieren mit jenem Bekenntniß, deshalb schob ich es immer wieder hinaus. Aber ich gebe Dir mein Wort darauf, Anna, noch ehe unser Bund unlöslich geschlossen wurde, hättest Du die volle, die ganze Wahrheit erfahren. Nun weißt Du Alles – nun richte mich.“
Sein Blick verschleierte sich wieder in der alten Weise, aber die großen strahlenden Augen, die auch ihm einst wie glückverheißende Sterne aufgegangen waren, sahen so hoffnungsfroh zu ihm auf, und die Stimme seiner Braut klang in voller, hingebender Zärtlichkeit:
„Nicht diesen düsteren Schatten mehr, Raimund! Laß ihn verschwinden. Du bist dem Leben zurückgegeben, und Dein Weib wird dieses Leben mit Dir theilen – ob es Fluch oder Segen bringt!“
Draußen war der letzte Rosenschimmer verglüht, und die Berggipfel ragten wieder starr und weiß empor, aber an dem noch lichten Abendhimmel, gerade über der Geisterspitze, stand groß und leuchtend ein Stern, er funkelte wie ein Diamant über dem schneegekrönten Haupte der Eisjungfrau. –
Die Nacht senkte sich auf das Gebirg nieder, aber sie kam nicht wie sonst schweigend und lautlos. Der warme weiche Hauch aus dem Süden wehte fort, und die Stimmen, die er aus dem Schlafe erweckt hatte, raunten und flüsterten jetzt nicht mehr, sie klangen laut durch die Nacht und das Dunkel.
Da krachte das Eis in den Bächen, und die so lange gefangene Welle blinkte wieder auf, die erstarrten, funkelnden Massen der Wasserfälle tropften und rannen von den Felswänden. In den Wäldern sank die Schneelast von den Zweigen, und die grünen Tannen regten die befreiten Wipfel und grüßten mit ihrem Wehen und Rauschen den Frühling.
Dort oben aber auf den Höhen lösten sich leise, wie von Geisterhand berührt, die weißen Schleier der Eisjungfrau. Sie begannen zu zerrinnen, zu zerfließen, tausend Quellen rieselten von den Gipfeln, mit jedem Schritte wachsend und anschwellend, tausend Bäche stürzten sich hinunter in das Thal, in den Bergstrom, der sie brausend und schäumend empfing. Aus jeder Felsschlucht, von jeder Klippe rauschte es nieder und stimmte ein in den vollen mächtigen Chor jauchzender Frühlingsstimmen.
Der Bann des Winters war gebrochen, die erlöste Natur rüstete zur Auferstehung – aber wenn die Eisjungfrau in das Thal niedersteigt, dann bringt sie Verderben!
Das alte unheilvolle Sprüchwort hatte Recht behalten! Jenes Frühlingserwachen war verhängnißvoll geworden und die Eis- und Schneemassen, die so plötzlich zerschmelzend von den Bergen niederrannen, brachten dem Thale Verderben.
Der Südwind hatte die Bahn gebrochen, jetzt kam der Frühling selbst, und jetzt begann der Kampf in der letzten Hochburg des Winters, im Hochgebirge, ein Kampf auf Leben und Tod.
Nicht umsonst hatten die Wasser ihre Banden gebrochen, nicht umsonst eilten sie in stürmendem Laufe dem Bergstrome zu. Er schwoll immer höher an, tobte immer wilder dahin, und die Fluth stieg drohender mit jeder Stunde.
Von allen Seiten zog dunkles Gewölk heran, schwerer, dichter Nebel senkte sich herab, und jetzt begannen die Schleusen des Himmels sich zu öffnen, und der Regen strömte Tag und Nacht, als sollte eine neue Sündfluth losbrechen. Was dem Thauwinde noch widerstanden hatte, das erlag diesen endlosen Regengüssen.
In den Thälern dampfte und gährte es von kämpfenden Wolken, die Lawinen donnerten nieder von den Höhen, die Wälder bebten und brachen unter den stürzenden Schnee- und Wassermassen, und jetzt machte sich auch der Sturmwind auf und sang sein brausendes Lied hinein in dies Toben der Elemente. Ueber dem Allem aber ragte die Geisterspitze auf, von flatternden Wolkenschleiern umwoben, und sandte immer wieder aufs Neue die tosenden Gletscherbäche in die Tiefe hinab und mit ihnen das Verderben!
Das Gebirg war fast unwegsam, und selbst die vorzüglich angelegte Bergstraße, die nach Felseneck führte, wurde von den Wildwassern theilweise überfluthet und zerrissen. Der Wagen des Freiherrn von Werdenfels hatte noch mit genauer Noth den Weg passirt, als er mit Frau von Hertenstein und deren Schwester von seinem Schlosse kam.
Anna hatte in der That auf der Rückkehr bestanden. Was ihr bisher das Recht gegeben hatte, in Felseneck zu weilen, hörte auf, nun Raimund völlig hergestellt war. Sie wollte die kurze Zeit bis zu der Vermählung, die in sechs Wochen stattfinden sollte, in Rosenberg zubringen. Der Freiherr hatte sich in Folge dessen gleichfalls zu der Rückkehr nach Werdenfels entschlossen, da es ihm nur von dort aus möglich war, seine Braut täglich zu sehen.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_422.jpg&oldid=- (Version vom 16.12.2023)