Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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man eine Stunde später daheim im Elternhause beim Kaffeetrinken überglücklich beisammen saß. „Man lernt erst, wenn man etwas allein thut und die Verantwortung dafür trägt. … Unsere zukünftige Küchenfee wird sich wundern, wenn ihre junge Frau schon Bescheid weiß.“
Die Stadträthin schüttelte indessen immer noch den Kopf.
„Ich kann’s noch gar nicht fassen – curiose Flitterwochen das!“
„Freilich – Deine Erfahrung und Dein unersetzbarer Beistand hat uns überall gefehlt, beste Mama,“ sagte jetzt der Assessor voll Anerkennung und Galanterie, und indem er sich der versalzenen Suppe erinnerte. „Aber – wer ist nicht einmal über seine Ideale gestolpert?“
Die Stadträthin schmunzelte zwar, konnte sich aber immer noch nicht ganz beruhigen und sagte:
„Also gar keine Hochzeitsreise – wollt Ihr denn durchaus selbst die Mode machen?“
„Warum nicht? Ist es nicht das Allernatürlichste von der Welt, mit seinem jungen Glücke das heißersehnte eigene Nest aufzusuchen, anstatt sich beliebig umherhetzen zu lassen? Wer thut mir’s nach?“
Fritz, der neben Käte stand, flüsterte dieser etwas in’s Ohr, was sie bis zu den Simpelfransen herauf erröthen machte. Niemand der Anwesenden hatte die Worte gehört; das feine Geistesohr des geehrten Lesers hat sie aber doch verstanden!
In den Hütten der Aussätzigen vor Jerusalem.
Bei Jaffa betrat mein Fuß die Erde des „heiligen Landes“. Arabische Barkenführer hatten mich von Bord des großen Triester Post- und Passagierdampfers, der schon weit draußen in der See die Anker fallen ließ, abgeholt und das schwankende Boot mit erfahrener Hand an Klippen und Untiefen vorüber durch die grollende Brandung bis an den zerfallenen Quai geführt. Es war zur Zeit der Orangenernte, im Februar. Die breiten Aeste bogen sich unter den goldenen Früchten, den Gärten entströmte ein balsamischer Duft, Tausende fleißiger Hände regten sich, pflückten die schweren Aepfel, verpackten sie in Kisten und trugen die Colli zum Hafen. Kein Mensch kümmerte sich um das Treiben des andern, ein Jeder hatte genug mit seiner Arbeit zu thun. Nur drei männliche Gestalten, in Lumpen gehüllt, saßen scheinbar theilnahmlos auf der Ufermauer und schrieen mir, als ich vom Strande aus die steinerne Treppe hinaufstieg, die bekannten ominösen Worte: „Bachschîsch, ya chawâge!“ („Ein Geschenk, o Herr!“) entgegen. Es waren Aussätzige, welche sich dem Palästinareisenden gewöhnlich zuerst im alten Joppe präsentiren, obschon ihre nächste gemeinschaftliche Behausung sich in dem nahezu zwei deutsche Meilen entfernten Städtchen Ramleh befindet. Zur Osterzeit, sobald zahlreiche und wohlhabende Pilger landen, stellen sich hier solche Unglückliche selbst aus Jerusalem ein, bei denen natürlich das Leiden noch nicht weit vorgeschritten sein darf und die daher ohne sonderliche Erschöpfung noch mehrere Stunden anhaltend zu laufen vermögen. Ich warf einige Kupferpara in die blechernen Schüsseln, welche alle diese Bedauernswerthen auf den Knieen vor sich halten, und eilte zunächst in die bekannte kleine württembergische Ansiedelung, um mir dort einen Wagen nach der Hauptstadt zu miethen.
Kaum zogen die Rosse an, um das hochsitzige, eigenthümlich construirte Fuhrwerk auf die Hauptstraße zu bringen, als wiederum dieselben drei „Elenden“ – so werden sie im Volksmunde in Syrien benannt – sich an den Pforten des Hôtelhofes postirt hatten, um abermals ihre leeren Gefäße jammernd und winselnd emporzuheben. Touristen, die auf der erwähnten Zwischenstation Ramleh vielleicht ein wenig länger als nöthig rasten, sind dann nicht selten auf das Höchste erstaunt, wenn direct vor den Thoren Jerusalems jene nämlichen Bettler zum dritten Male tributfordernd erscheinen, die ihnen beim Ausschiffen entgegentraten, und welche bei der Abfahrt aus der Colonie sich an sie herandrängten.
So seltsam es auch klingt, die Aussätzigen in Jerusalem und Ramleh bilden thatsächlich unter sich eine wohlorganisirte – Corporation mit einem „Scheich“ an der Spitze, der in den Frühjahrsmonaten die schnellsten Läufer auswählt und hinab nach Jaffa sendet, sobald dort die Ankunft eines wohlbesetzten europäischen Steamers erwartet wird. Während der Reisende in Ramleh ruht, um die heißen Mittagsstunden nicht in einem unbedeckten Gefährt auf der völlig schattenlosen Chaussee verbringen zu müssen, eilen diese aus der Gesellschaft Ausgestoßenen, so schnell sie nur ihre Füße tragen können, auf kürzeren Seiten- und Gebirgspfaden voraus, um sich etwa fünfhundert Schritt vor der Stadtmauer Jerusalems rechts oder links von der Landstraße mit den anderen Leidensgenossen vereint zu lagern. Letztere gehören durchschnittlich schon zu den „Invaliden“ der Corporation. Ihre Glieder sind steif, ihr Gang schleppend, die Stimme heiser, die Finger nach innen gebogen und ohne Gefühl – in jeder Beziehung die mitleiderweckendsten Geschöpfe, die kaum aus ihren Hütten hierher zu kriechen vermochten.
Vernehmen sie aber den Hufschlag der Pferde, das Rollen der Räder, sehen sie eine Staubwolke auffliegen, so stoßen sie gemeinschaftlich ihren Ruf nach „Bachschisch“ in so denkbar kläglicher und gellender Weise aus, daß der Neuling in diesem Lande ein Unglück vermuthet und den Wagen halten lassen will.
Noch vor zehn Jahren waren diese Leprosen eine Plage für die Stadt, besonders fur die einzelnen europäischen Familien in derselben. Betrat man damals Jerusalem beim Zionsthor, so erblickte man zur Rechten sechszehn niedrige Hütten, aus unbehauenen Steinen aufgeführt und mit Stroh und Lehm zugedeckt. Diese Hütten – richtiger wäre schon die Bezeichnung Höhlen gewesen – waren kaum zehn Schritt von der an diesem Punkte ziemlich hohen Stadtmauer errichtet. Eine stieß an die andere, aber alle wandten ihr Angesicht von der Straße ab und der Mauer zu. Die Parias des „heiligen Landes“ hatten hier ihr Unterkommen gefunden. Niemand sorgte für sie, keiner kümmerte sich um sie, weder der Pascha, noch der Moschee-Vorstand; kein Hakim (Arzt), kein Marabut, kein Mensch brachte ihnen Hülfe, bezeigte ihnen Interesse, Jedermann ging ihnen aus dem Wege, nachdem er von weitem eine Scheidemünze oder eine Frucht in ihren Eimer geworfen hatte. Mitunter erschienen aber auch die Aussätzigen in den Häusern der Stadtbewohner und waren nicht eher zum Weggang zu bewegen, bevor man ihnen nicht ein Almosen reichte. Besonders ekelerregend mußte ihr Besuch in den Wohnungen der Europäer sein, die sich mit den Zudringlichen theilweise gar nicht oder nur äußerst mangelhaft verständigen konnten. War der hingeworfene Bachschisch dem unausstehlichen Gaste zu gering, so blieb derselbe so lange im Hause, bis ein zweiter größerer folgte.
Endlich raffte sich die türkische Behörde auf. Kiamil Pascha, Gouverneur der „heiligen Stadt“, erließ ein Bittschreiben an die europäischen Konsuln, die christlichen Bischöfe, Priester und Missionare, desgleichen an die wohlhabenderen Deutschen, Engländer und Franzosen in seinem Paschalik mit dem Ersuchen, ihm so rasch und so viel als möglich Gelder zu übermitteln, damit man den von aller Welt Gemiedenen eine halbe Stunde vor der Ringmauer ein Asyl erbauen und endlich die Baracken am Zionsthor niederreißen könne. Die Beiträge flossen reichlicher und schneller, als der Pascha geglaubt, da besonders die ansässigen Deutschen und Engländer von der unangenehmen Nachbarschaft in Bälde befreit sein wollten.
Der Bau des Spitals wurde diesmal wirklich sofort begonnen, wie gesagt, zum Besten mohammedanischer Araber und für Unterthanen des Sultan, obwohl kein Moslem auch das geringste Scherflein beigesteuert hatte. Noch ehe das Gebäude beim Dorfe Siloah gänzlich fertig gestellt ward, trieb Ali Bey, der Nachfolger Kiamil Paschas, die „hoffnungslos Elenden“ mit Gewalt in die neue Caserne, da sich freiwillig keiner zu einer Uebersiedelung bequemen wollte. Der Wechsel des Domicils war weniger die Ursache des Sträubens, als das zugleich unter Androhung der schwersten Strafen erlassene Verbot, sich künftighin noch in den Straßen und Häusern der Stadt zu zeigen. Nur für den zweiten Tag des Monat Schauwal („Kleiner Beiram“) sollte diese Bestimmung außer Kraft bleiben. Als man das schmutzige Gemäuer am Zionsthor zerstörte, blieb den Bejammernswerthen
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 419. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_419.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2024)