Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Gebannt und erlöst.
Da wurde leise die Thür geöffnet, und ein Frauenkleid
rauschte auf dem Teppich des Fußbodens. Werdenfels wandte
sich um, und jetzt schwanden Düsterheit und Schatten aus seinen
Blicken, sie strahlten auf in leidenschaftlichem Glücke, als er seine
Braut eintreten sah.
Anna hatte die Trauer abgelegt, die sie so lange getragen, und es war, als sei damit auch jener strenge Ernst, jene stolze Kälte gewichen, die sie mit einer solchen Unnahbarkeit umgaben vor fremden Augen. Die hohe schlanke Gestalt in dem hellen Gewande glitt wie eilt Sonnenstrahl in das danke Gemach, und in dem sonnigen Lächeln, mit dem sie Raimund begrüßte, ging selbst jener Zug energischer Willenskraft unter, der sonst ihrem Antlitz das Gepräge lieh. Es war das glückselige Lächeln des Weibes, das wochenlang um den Geliebten gebangt und gezittert hat und ihn nun endlich genesen, gerettet sieht.
„Ich habe soeben Nachricht von meinem verwaisten Rosenberg erhalten,“ sagte sie. „Man kann sich dort gar nicht in meine lange Abwesenheit finden, und auch meine kleine Lily fängt an, sich wieder nach Hause zu sehnen. Wir werden an die Rückkehr denken müssen.“
Sie sprach die letzten Worte mit einem gewissen Zögern, und in der That fuhr Raimund mit dem vollen Ausdruck des Schreckens empor.
„Du willst fort? Du willst mich verlassen?“
„Bin ich nicht lange genug bei Dir gewesen? Der Arzt hat Dich bei seinem heutigen Besuche für genesen erklärt. Du bedarfst meiner Pflege nicht mehr.“
„So bedarf ich Deiner Nähe! Ich kann sie nicht entbehren, selbst auf Stunden nicht!“
Die junge Frau schüttelte lächelnd den Kopf bei dieser leidenschaftlichen Versicherung, aber sie widersprach nicht, sondern trat an die offene Glasthür, welche nach dem Altan hinausführte.
„Es weht heute eine wahre Frühlingsluft draußen,“ sagte sie. „Sieh nur, wie das Abendroth dort oben verglüht.“
Raimund trat gleichfalls an die Thür, es war in der That nicht kühl, trotz der späten Stunde, und die Ranken des Epheu, der den Altan und das Mauerwerk umflocht, regten sich nur leise im Abendwinde.
Es war das alte Bild voll düsterer, wilder Großartigkeit, ringsum nur Felsen, Tannen und Schneegefilde. Die Eisjungfrau hielt noch überall ihre weißen Schleier gebreitet, noch stand ihr krystallenes Reich in unverminderter Pracht, aber es fehlte der eisige Hauch, der dies Reich geschaffen und ihm die Dauer gegeben hatte, es fehlte die starre Todesruhe darin und das Todesschweigen.
Das Abendroth wob seine rosigen Schleier um die weißen Schneegipfel und der höchste von allen, die Geisterspitze, die allein noch den Abschiedsgruß der scheidenden Sonne empfing, stand in dunkler Purpurgluth, einsam und mächtig, wie der Riesengeist des Gebirges, vor dem sich all die anderen Häupter neigen. Dort oben war noch alles Glanz und Licht, während das Thal sich schon in blauen Nebelduft zu hüllen begann.
Der Frühling hatte seinen ersten Boten in das Hochgebirge entsendet – der Südwind war gekommen! Er wehte durch die Thäler, er schwang sich auf die Höhen und über die Schneegefilde, und unter seinem weichen warmen Hauche lösten sich die eisigen Fesseln des Winters.
Voller und mächtiger als sonst kam das Brausen des Bergstromes aus der Tiefe, aber jetzt war er nicht mehr das einzige Leben in einer erstorbenen Welt, jetzt verhallte sein Ruf nicht mehr einsam in schweigender Oede, von allen Seiten ringsum kam raunend und flüsternd die Antwort zurück. Aus allen Felsen und Klüften tönte es geheimnißvoll wie von tausend erwachenden Stimmen, die sich erst leise, wie noch im Traume regten. Es tropfte, rieselte, rauschte überall – der Schnee begann zu schmelzen.
Anna brach zuerst das minutenlange Schweigen das eingetreten war.
„Die Geisterspitze grüßt uns heute in seltener Pracht,“ sagte sie hinaufdeutend. „Es ist, als ob verborgene Flammen in ihrem Innern loderten, der ganze Berg erscheint wie in Gluth und Licht getaucht."
Raimund’s Blick war der Richtung des ihrigen gefolgt und hing jetzt gleichfalls an dem dunkelglühenden Gipfel.
„Und es ist doch nur Eis und Schnee da oben auf dem unzugänglichen Throne der Eisjungfrau. Sie duldet es nicht, daß man ihr in das Antlitz schaut, das habe ich erfahren, als ich mich einst in den Klüften der Geisterspitze – verirrte.“
„Wußtest Du denn nicht, daß sie unwegsam sind? Was suchtest Du dort oben?“
„Den Tod!“ sagte Werdenfels schwer und dumpf.
„Raimund!“
„Ja, Anna, ich habe ihn damals gesucht und ersehnt, weil ich es nicht für möglich hielt, ein ganzes langes Leben hindurch die Last zu tragen, die das Unheil einer einzigen Stunde auf mich gewälzt hatte. Mit zwanzig Jahren hält man es für so leicht, ein Ende zu machen mit all der Qual und dem Elend, aber das Leben weiß uns festhalten. Ich wurde aufgefunden, erstarrt und besinnungslos, aber ich erwachte doch und mußte weiter leben.“
„Und was – was trieb Dich hinauf in jene Eisklüfte?“
Die Frage kam leise, bebend von den Lippen der jungen Frau, und ebenso klang die Antwort Raimund’s.
„Fragst Du endlich darnach? Ich habe seit Wochen darauf gewartet, aber Du schwiegst immer, Du wußtest immer abzulenken. Ich sah es deutlich, Du wolltest nichts hören.“
„Ich durfte ja nicht! Der Arzt hatte es mir zur strengsten Pflicht gemacht, Dir jede Aufregung fern zu halten, er forderte die vollste Ruhe als erste Bedingung Deiner Genesung, und ich wußte nur zu gut, daß jede Berührung der Vergangenheit einen Sturm in Deinem Innern entfesseln würde. Jetzt aber bist Du genesen –“ sie drückte die Hand gegen die Brust, und ein tiefer Athemzug rang sich daraus empor, „laß mich die Wahrheit hören!“
Raimund schwieg, aber er legte den Arm um seine Braut und zog sie an sich, während sein Auge mit banger unruhiger Frage das ihrige suchte, als fürchte er ein erneutes Zurückweichen, doch Anna legte mit voller inniger Hingebung das Haupt an seine Schulter.
„Fürchte nichts, Raimund! Was ich hören werde, ich schaudere nicht mehr davor zurück. Das war zu Ende in dem Moment, wo ich Dich von Gefahr und Tod bedroht wußte. Da fühlte ich, daß es nur eins giebt, was ich nicht ertragen kann – Dich zu verlieren! Und wenn es Schuld und Fluch ist, was Du mir zu bekennen hast, trennen wird es uns nicht mehr. Ich theile Deine Zukunft, ich will auch die Vergangenheit mit Dir theilen.“
Raimund preßte sie an sich, doch nur einen Moment lang, dann ließ er sie aus den Armen. Die krampfhafte Heftigkeit dieser Bewegung zeigte, wie nothwendig die Schonung bisher noch gewesen war.
„Du hast mehrere Jahre im Pfarrhause von Werdenfels gelebt,“ sagte er endlich. „Hörtest Du nie eine Anklage gegen mich?“
Anna schüttelte verneinend den Kopf.
„Deinen Vater klagte man an, aber Haß und Furcht hatten ja so manches Märchen über ihn erfunden, das unglaublich klang, ich glaubte auch dies nicht, und Gregor sprach niemals darüber. Von Dir war kaum jemals die Rede. Du lebtest ja immer auf Reisen, und wenn Du wirklich einmal nach dem Schlosse kamst, so vermiedest Du es, Dich im Dorfe zu zeigen. Ich hatte Dich niemals gesehen, und der Freiherr von Werdenfels, dem wir in Venedig begegneten, war mir ein Fremder, bis auf den Namen.“
„Ich begreife es,“ sagte Raimund düster. „Damals schürte Vilmut den Haß noch nicht, er wußte, daß bei dem Charakter meines Vaters alsdann die blutigen Conflicte nicht ausbleiben konnten, und daß der Schaden auf Seiten seiner Pfarrkinder
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_406.jpg&oldid=- (Version vom 5.1.2024)