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Seite:Die Gartenlaube (1883) 394.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Strebens der zwei Brüder, von denen einer das Menschenwesen, der andere den Kosmos zum Gegenstand ihrer Erforschung erhoben. – Auch über ihren nunmehr errichteten Standbildern vor der Berliner Universität schwebt in dem Bewußtsein ihrer Beschauer das Bild der höheren Hoffnung: der Hoffnung, daß der Geist der freien Wissenschaft siegreich all die Trübungen überwinden wird, die aus vergangenen Jahrhunderten noch immer einzelne Geister der Gegenwart umfangen.




Alle Rechte vorbehalten.

Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Am andern Morgen, zu noch sehr früher Stunde, öffnete Vilmut das Gitterthor von Rosenberg. Während er rasch dem Hause zuschritt, bemerkte er den alten Ignaz, der beschäftigt war, die Pferde aus dem Stalle zu ziehen, und dabei mit ungewohnter Eile zu Werke ging; der Pfarrer blieb stehen.

„Will Frau von Hertenstein ausfahren?“ fragte er.

„Ja, Hochwürden,“ versetzte der Alte, indem er seine Beschäftigung unterbrach und die Mütze zog. „Die gnädige Frau will sogleich fort.“

„So früh schon? Und wohin?“

„Das weiß ich nicht, aber ich soll mich beeilen, so viel ich nur kann.“

Vilmut erwiderte nichts, doch er beschleunigte seinen Schritt noch mehr und trat gleich darauf in das Balconzimmer.

Anna befand sich allein dort, sie ging in heftigster Unruhe und Aufregung auf und nieder, einen offenen Brief in der Hand. Das Antlitz der jungen Frau war fieberhaft geröthet, und ihre Augen leuchteten in unnatürlichem Glanze, ihr ganzes Wesen verrieth eine verzehrende Angst, während sie wieder und immer wieder das Billet las, welches nur wenige Zeilen zu enthalten schien.

Beim Eintritte Gregor’s blieb sie stehen, aber kein Wort begrüßte den so unvermuthet Eintretenden, stumm, in beinahe feindlicher Haltung stand sie da und erwartete seine Anrede. Gregor bemerkte das sofort, er sah den Brief in ihren Händen und errieth den Zusammenhang.

„Ich komme so früh, um zu verhindern, daß die Gerüchte aus Werdenfels entstellt und übertrieben zu Dir gelangen,“ begann er. „Du scheinst aber bereits davon unterrichtet zu sein.“

„Ich habe soeben die Nachricht erhalten. Paul Werdenfels sandte einige Zeilen an seine Braut, und Lily gab den Brief in meine Hände.“

An seine Braut! Also hatte die Verlobung bereits stattgefunden, trotz der Einsprache des Vormundes. Unter anderen Umständen würde Gregor diese Mißachtung seiner Autorität streng gerügt und ein energisches Veto eingelegt haben, jetzt achtete er kaum darauf. Was galt ihm in diesem Augenblicke Lily, was selbst die Anfechtungen gegen seinen Willen, seine Augen hingen in finsterer Unruhe an der jungen Frau, als wollten sie die Wirkung jener Nachricht erforschen.

„So weißt Du vermutlich, daß die Wunde des Freiherrn keine tödtliche ist,“ sagte er. „Der Arzt erklärt sie für bedenklich, giebt aber Hoffnung. Ich sprach ihn selbst, als er vom Schlosse kam; ich wollte Gewißheit über die Folgen des Sturzes haben.“

„Des Ueberfalles, meinst Du! Man stach ja das Pferd nieder und zwang den Reiter, zu stürzen.“

„Wer hieß ihn die Gefahr herausfordern? Ich hatte ihn ausdrücklich gewarnt, es war eine Tollkühnheit, allein mitten durch das Dorf zu reiten und der aufgeregten Menge jedes Zugeständniß zu verweigern. Sein Neffe, der ihn sonst stets begleitet, war vermuthlich in Rosenberg, denn er erschien erst nach der Katastrophe.“

„Und wo warst Du, Gregor?“ fragte Anna, indem sie wie drohend vor ihn hintrat.

„Ich? Bin ich etwa der Hüter des Freiherrn von Werdenfels?“

„Du hast ja von jeher Deinen Stolz darein gesetzt, der Hüter Deines Dorfes zu sein. Bei jedem noch so unbedeutenden Streite bist Du schlichtend und entscheidend dazwischen getreten, hier bliebst Du ruhig im Pfarrhause, hier, wo es sich um Leben und Tod handelte. Aber freilich, es galt ja Raimund, für den allein war Deine Hülfe nicht da. Vielleicht komme ich schon zu spät, wenn ich zu ihm eile.“

„Wohin willst Du?“ fuhr Gregor auf.

„Nach Werdenfels – zu Raimund!“

„Also doch! Ich ahnte etwas Derartiges. Er hat wohl schleunigst den Unfall dazu benutzt, um Dich an seine Seite zu rufen?“

Die junge Frau senkte wie schuldbewußt das Haupt.

„Nein! Raimund könnte seinen Tod vor Augen sehen, er würde mich nicht rufen, nachdem ich ihn so zurückgestoßen habe, aber es bedarf dessen nicht, ich komme freiwillig.“

Sie trat an das Fenster, um zu sehen, ob der Wagen bereit sei, aber Ignaz ging trotz der ihm anbefohlenen Eile mit großer Umständlichkeit zu Werke, er war noch immer nicht fertig. Die junge Frau preßte in krampfhafter Ungeduld die Hände zusammen, sie achtete kaum mehr auf Vilmut, der ihr gefolgt war und jetzt dicht neben ihr stand.

„Ich habe diesen Entschluß gefürchtet und bin eigens gekommen, ihn zu hindern,“ sagte er mit der alten Härte und Entschiedenheit. „Du bist vollständig unzurechnungsfähig, sobald es sich um eine Gefahr dieses Mannes handelt. Man muß Dich zur Besinnung rufen. Ich werde nicht zugeben –“

„Spare Deine Worte!“ unterbrach ihn Anna. „Denkst Du, ich werde mich zurückhalten lassen, wenn ich Raimund leidend, vielleicht sterbend weiß? Seine Todesgefahr hat mir gezeigt, wo mein Platz ist, wo er längst hätte sein sollen. Ich achte jetzt nichts mehr.“

„Auch nicht Deinen Ruf? Vor den Augen der Welt ist der Freiherr Dir ein Fremder. Mit welchem Rechte willst Du bei ihm weilen?“

„Mit dem Rechte der Braut, der künftigen Gattin! Ich war Raimund’s Verlobte und bin es noch.“

„Thorheit! Du selbst hast die Verlobung aufgehoben, Du wurdest das Weib eines Andern und Werdenfels lebte jahrelang fern von Dir.“

„Glaubst Du, daß er mich in all den Jahren vergessen hat oder ich ihn?“ fragte die junge Frau mit bebender Stimme. „Ja, ich löste die Verbindung, von Dir gedrängt, gezwungen. Ich war ja damals kaum achtzehn Jahre, und ich war in Deiner Schule herangereift, in Deiner Lehre erzogen, die keine Gnade kennt für ein Vergehen, nur Verdammniß und Strafe. Ich hätte Raimund damals hören müssen, als er Gehör forderte, ihn allein, denn er hat Recht, so lange Du zwischen uns standest mit Deinem Eisesblick, war jede Verständigung unmöglich. Ich durfte ihm die Vertheidigung nicht verweigern.“

„Hat er sich verteidigt, als Du ihn fragtest?“ sagte Gregor langsam. „Hat er mich der Lüge geziehen, als ich ihn anklagte? Und doch wußte er, daß an seinem Worte Dein Besitz hing. Du hättest ein Schuldbekenntniß empfangen, nichts weiter.“

„Nun denn, so mußte ich verzeihen, anstatt zu verdammen, und mit ihm tragen, was das Schicksal über uns verhängte. Was Du damals als Pflicht von mir fordertest, was Du mir als Charakterstärke ausmaltest, das war Schwäche und Feigheit dem Manne gegenüber, den ich liebte. Ich zitterte für mein Glück, für mein Heil an seiner Seite, und ich hätte doch nur nach dem seinigen fragen dürfen. Wir haben Beide den Irrthum gebüßt mit Jahren der Trennung und Verzweiflung, aber jetzt endlich ist es klar in meiner Seele geworden. Ich frage nicht mehr darnach, was Raimund gethan hat, und ich schaudere nicht mehr davor zurück. Mag die ganze Welt ihn ausstoßen und verdammen, mag der Schatten, der sein Leben verdunkelt, auch das meinige in Nacht hüllen – ich theile seine Schuld und sein Verderben!“

Es lag ein stürmischer, leidenschaftlicher Triumph in ihren Worten, der Triumph des Befreiten, der endlich die lang getragenen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 394. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_394.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2024)