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Seite:Die Gartenlaube (1883) 383.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

küßte sie innig, fast weihevoll und streichelte ihr die blonden Haarwellen wie einem Kinde. Dabei bemerkte er den Brief in ihrer Hand und frug:

„Woher?“

„Aus Heidelberg. Vom Vetter Fritz. Noch eines zu den vielen Glückwunschschreiben und Depeschen. Er – hofft uns in Heidelberg zu sehen …“

„So wünschest Du wohl, daß wir uns dorthin wenden?“

„Du lieber Gott, wenn nur die Reisetoilette nicht so hübsch wäre! Steht sie mir nicht reizend?“

„Versteht sich. Aber Du wirst nicht weniger hübsch darin aussehen, wenn wir in den Gerichtsferien eine Erholungsreise machen. Den Plan dazu machen wir daheim mit einander.“

„O, ich möchte ja gern mit Dir zu Hause bleiben – Du hast ja Recht – ich glaube wenigstens. Aber es ist doch zu unmodern, zu unpassend. Es gehört nun einmal zum guten Ton. … Wo wollen wir denn auch die großen Photographien herbekommen, die in ein elegantes Heft gebunden auf dem Sophatische der neuen Einrichtung liegen müssen? So wie bei Lieutenant Wendler’s? Du weißt doch? Auf der Außenseite steht in großen Goldbuchstaben ‚Unsere Hochzeitsreise!‘ Solch ein Album, Gustav, muß ich haben. Es gehört einmal zu jeder neuen und eleganten Einrichtung.“

„Ich kaufe es beim Kunsthändler – viel billiger, und schenke es Dir zum Geburtstag.“

„Und dann – lache mich nur aus! – ich möchte auch gern einmal etwas erleben. Daheim erlebt man nichts.“

Ueber das kluge und ansprechende Gesicht des Assessors glitt jetzt ein schelmisches Lächeln.

„Nun, ist es nicht auch beinahe ein Abenteuer, wenn ich Dich – ganz heimlich – in mein Haus entführe, und dort – gefangen halte? Nicht hinter Kerkermauern und Eisenstäben, aber hinter dicht geschlossenen Gardinen und fest herabgelassenen Rouleaux? Dies Abenteuer hast Du sicher, es ist neu, pikant und – ungefährlich.“

Die junge Frau schien frappirt.

„Wirklich, Du hast Recht,“ sagte sie, ihn aus großen verwunderten Augen liebevoll, fast kindlich anblickend, „wenigstens in Bezug auf das Originelle der Situation. Ich hätte nicht gedacht, daß man ein Abenteuer, und noch dazu ein ganz apartes, so billig haben könnte.“

„Also Du willigst wirklich ein, daß wir unsere Hochzeitsreise zu uns selbst machen?“ frug noch einmal lachend der glückliche Assessor und zog die Geliebte triumphirend an sein Herz.

Ein liebendes Herz ist leicht überzeugt – bittende Blicke sind ihm bestimmende Gründe, und ein zärtlicher Händedruck gilt ihm als vollgültigster Beweis. Darum war auch jetzt ein langer Kuß die einzige wohl verstandene Antwort.

„Halt, ich stelle eine Bedingung!“ fuhr Marie nach einigem Besinnen dennoch plötzlich fort. „Niemand darf von unserem Hierbleiben erfahren! Mama würde außer sich gerathen und Dich vermuthlich einen Tyrannen nennen – der Du allerdings auch bist! Und Lili Berger und Frieda Menke würden sich in’s Fäustchen lachen und meinen, daß ich schon jetzt unter dem Pantoffel stehe –“

„Während man es doch umgekehrt erwartet?“ warf der Assessor lachend ein.

„Still! Hörst Du – Niemand darf ein Sterbenswörtchen erfahren!“

„Wenn ich auch lieber ganz öffentlich zu Hause bliebe, so mag alles Uebrige doch ganz nach Deinem Wunsche geschehen. Auch geht es ohnehin kaum anders – wegen der versprochenen Gefangenschaft! Ich hätte wirklich nicht gedacht, daß Du so abenteuerlustig wärst. … Immerhin – das Geheimniß wird jedenfalls den Reiz unseres Beisammenseins erhöhen! Eine Entdeckung, wenigstens eine vorzeitige, ist nicht zu fürchten. Unsere Wohnung liegt ja in einem weit entfernten Stadtteil. … Still, Mama!“

„Da sind sie noch! Gott sei Dank!“ trat die Stadträthin hoch echauffirt an das Paar heran. „Ich glaubte schon, Ihr wäret über alle Berge. Papa, Mieze will Dir Adieu sagen! Wo steckt denn Großmama? Ach so, sie sitzt drüben am Kaffeetische. … Schnell, schnell, Papa, der Bräutigam hat es eilig! Ach, diese Männer, sie können nicht rasch genug aus den vier Pfählen herauskommen. Da ist kaum einer, der noch Sinn und Geschmack für Häuslichkeit hat. Ueberall heißt es nur: fort – hinaus. … Und dazu das schlechte Wetter! Es regnet und stürmt ja draußen, als ob heute noch der jüngste Tag anbrechen wollte.“

Es war wirklich ein rechtschaffen schlechtes Wetter. Erbarmungslos rang der Winter mit dem Sommer. Denn noch war der Lenz ein schwacher launenhafter Bube, der mit lautem Sturmhohngelächter der armen Erde die letzten mit Regen untermischten Schneeflocken handvollweise in’s Gesicht streuete, um es ihr zehn Minuten später durch zärtlich warme Sonnenstrahlen wieder abzubitten. … Wie um seine Macht zu beweisen, riß der Aprilsturm soeben den Fensterflügel auf und jagte im Umsehen einen Wirbel Schneeflocken hinein. Tante Bertha, die die große Kunst besaß, immer im rechten Augenblicke zu erscheinen, sprang sogleich zu, um ihn zu schließen. … Aber auch die übrige Hochzeitsgesellschaft hatte die Stimme der Brautmutter aus der behaglich weltverlorenen, etwas duseligen Siestastimmung aufgestört, in welcher man drüben am Kaffeetische beisammen saß. Die halberloschene Cigarre oder die erkaltende Tasse in der Hand, kam man etwas pustend herbei, um sich noch einmal traum- und rührselig um das scheidende Brautpaar zu gruppiren.

„Du bist doch warm angezogen?“ fuhr die Stadträthin in steigendem Eifer fort, indem sie den Anzug der jungen Frau bis zur letzten Stecknadel prüfte. „Die Reisetoilette ist hübsch und könnte in jedem Schaufenster ausgestellt werden! Leider wird sie unterwegs schnell genug verderben.“

„Ihr habt aber auch ausgesucht schlechtes Reisewetter, man möchte keinen Hund hinausjagen!“ meinte der Stadtrath besorglich und wohlmeinend, aber mit jener eigenthümlichen Rauhheit der Stimme, wie sie nach einem Hochzeitsdiner auch bei soliden Leuten sich einzustellen pflegt.

„Darum thun wir besser hier zu bleiben, Papachen,“ wagte der Assessor, vorerst nur sondirend, einzuwerfen.

„Ist die Möglichkeit, nun gar hier bleiben!“ schnitt die Schwiegermutter die Antwort des Vaters ab. „O, diese Männer, wetterwendisch sind sie, einer wie der andere. Nein, das wäre eine neue Mode und gegen jeden guten Ton. Neue Moden fangen wir nicht an, das überlassen wir anderen Leuten. Ihr zieht Euch warm an und reist, und damit Punctum! Aber um Alles in der Welt, gebt uns bald Nachricht. Du lieber Gott, ich werde mich einstweilen zu Tode ängstigen …“

Der eintretende Lukas schnitt das Weitere ab. Er kam, um zu melden, daß der Wagen vorgefahren sei, um den Herrn Assessor und die junge gnädige Frau nach dem Bahnhof zu bringen. Koffer und Hutschachteln habe er schon hinein besorgt. Auch Max, der Obertertianer und einzige beträchtlich jüngere Bruder der jungen Frau, der in seiner „Bude“ oben im Erker seinen ersten privilegirten Rausch ausgeschlafen hatte, war inzwischen herbeigekommen, um Schwester und Schwager Lebewohl zu sagen. Aber er fand plötzlich, daß er doch zur Unzeit gekommen war. Denn die Mutter hatte soeben das Taschentuch vor’s Gesicht gedrückt und auch der Vater wischte und wischte. So blieb es doch jedenfalls auch Schuldigkeit des einzigen Bruders, gerührt zu sein. Auch brachte er mit Hülfe des glücklich beginnenden Katzenjammers wirklich etwas „Scheidewasser“ zu Stande. Bei der jungen Frau brach jetzt aber ernstlich und fast wider eigenes Erwarten das Trennungsgefühl durch. Es war kein Schmerz, aber ein einziges krampfhaftes Weh, was überwunden werden mußte. Sie hätte wenigstens nun nicht mehr, wie sie gewollt, ohne Abschied gehen können. Es würde der Trennung die Weihe gefehlt haben. … Zwei lange, kurze Minuten lag sie am Halse des Vaters, der Mutter, dann legte sie ihren Arm, zutraulich wie ein Kind und fest wie ein Mann, in den Arm ihres Gatten, und schritt mit ihm zur Thür, die Andern nur mit den Augen und einer flüchtigen Handbewegung grüßend.

Als sich die Thür hinter dem Brautpaar geschlossen hatte, stand Tante Bertha hinter ihrer Cousine, der Stadträthin, und wartete auf eine Ohnmacht. Und sie war auch diesmal zu rechter Zeit gekommen.




2.

Die von dem Assessor gemiethete Familienwohnung draußen in der Vorstadt war wirklich das einzige Ziel der langbesprochenen Hochzeitsreise geworden. Die Stadträthin hatte sie noch in der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 383. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_383.jpg&oldid=- (Version vom 5.1.2024)