Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Es konnte nicht fehlen, daß namentlich unter den Leipziger Lehrern das Wirken Dr. Schreber’s von Erfolg war. In den Lehrern erkannte er seine besten Mitarbeiter und dadurch, daß er verlangte, die Erziehung müsse auf genauer Kenntniß der Physiologie und der Psychologie sich aufbauen, suchte er der Erziehungskunst eine feste, wissenschaftliche Grundlage zu geben. Lehrer waren es auch, die in Leipzig den ersten Schreber-Platz schufen. Der erste, welcher die Hand an den Pflug legte, war der als tüchtiger Pädagog weithin bekannte Leipziger Schuldirector Dr. Ernst Innocenz Hauschild.
Auch er verdient es, daß wir hier seine Vergangenheit kurz berühren. Er wurde am 1. November 1808 in Dresden geboren. Dort erhielt er auch seine erste Schulbildung. Später besuchte er die Fürstenschule in Meißen und bezog 1826 die Universität Leipzig, um hier Philosophie, Philologie und Theologie zu studiren. Dann ging er in gleicher Absicht nach München, wo ihn namentlich neuere philologische Studien fesselten. Von 1830 ab ist er Lehrer und Leiter der verschiedensten Anstalten gewesen. Sein pädagogisches Wanderleben hat ihm viele Enttäuschungen, aber auch reiche Erfahrungen gebracht. Er gab verschiedene Lehrbücher in der französischen und englischen Sprache heraus, die vielfache Auflagen erlebten. In dem von ihm gegründeten „Modernen Gesammtgymnasium“ in Leipzig suchte er praktisch nachzuweisen, daß der Schüler vom Deutschen zunächst in die englische und französische und zuletzt erst in die lateinische und griechische Sprache einzuführen sei. Später, 1854, errichtete er eine höhere Töchterschule, die noch heute unter der Leitung eines seiner Schwiegersöhne, des Dr. Willem Smitt, blüht. Mehr und mehr fühlte er sich zur Volksschule hingezogen. Er ward 1862 Director der vierten Bürgerschule, in welcher Stellung er leider nur vier Jahre wirken sollte; bereits am 5. August 1866 starb er, zu früh für die Seinen, zu früh für die Schule.
Hauschild war ein echter Gesinnungsgenosse Schreber’s. Auch er suchte dem alten Satze: „Eine gesunde Seele in einem gesunden Körper“ volle Geltung zu verschaffen. Seine Schule wurde z. B. die erste in Leipzig, welche einen Turnsaal hatte, dann suchte er zwischen Haus und Schule eine innigere Verbindung herzustellen, um seine Ideale verwirklichen zu können. Am 30. April 1864 erließ er an die Bewohner der Westvorstadt, an seine „liebe Schulgemeinde“, einen Aufruf, in dem er zur Bildung eines „Eltern- und Lehrervereins“ aufforderte. Als eine Hauptaufgabe dieses Vereins stellte er die Beschaffung von Spielplätzen für die Jugend hin.
„Wie lange wird es dauern“ – schreibt er – „und unsere Kinder sind, wie die bedauernswerthen Kinder der inneren Stadt, mit ihren Spielen auf das unerquickliche und gefahrbringende Straßenpflaster, auf kleine Höfe, auf winzige Gärten angewiesen. Wollen wir nicht jetzt, so lange der Grund und Boden in unserer Vorstadt noch verhältnißmäßig wohlfeil zu erlangen ist, einen Spielplatz auf alle Zeiten für die Kinder auf der Westseite von Leipzig, für die Kinder der vierten Bürgerschule erwerben, einen großen Spielplatz, auf welchem man zugleich in einem Winkel einen hübschen ‚Kleinkindergarten‘ und in einem anderen Winkel für die Schule einen ganz bescheidenen kleinen botanischen Garten anlegen könnte? Ein Privatmann wird früher oder später einen solchen Platz als gute Baustelle losschlagen, oder seine Erben werden es wenigstens thun; die Schulgemeinde, welche durch ihren Schulverein diesen Platz erworben hätte, wird aber den Spielplatz für ihre Kinder nimmer sich feil machen lassen, so wenig als ein englischer Lord seinen Park in London aufgiebt, wenn auch ringsum die ungeheure Stadt ihm über den Kopf gewachsen ist.“
Hauschild hatte den rechten Augenblick erfaßt. Seine Idee fand solchen Anklang, daß kurz nachher ein solcher Verein in’s Leben trat, der alsbald auch vom Leipziger Rathe einen geeigneten Platz, wenn auch nicht kaufte, so doch pachtweise erwarb. Man wollte dem neuen Verein den Namen seines Gründers beilegen; aber der wackere Hauschild lehnte dies mit aller Entschiedenheit ab und gab in Erinnerung an die Bestrebungen seines verstorbenen Freundes dem jungen Verein den Namen „Schreber-Verein“ und dem Spielplatze den Namen „Schreber-Platz“. Am 29. Mai 1865 wurde dieser Schreber-Platz feierlich eröffnet, und Hauschild hielt die Weihrede, in welcher er dies Geschenk, womit die Eltern und Lehrer ihre Kinder erfreuten, mit einer Weihnachtsbescheerung verglich. Das Jahr darauf starb Hauschild. Sein Andenken lebt fort in seinen Schöpfungen und den Herzen aller derer, die ihn kannten. Auf dem ersten Schreber-Platze Leipzigs ist ihm ein Denkmal gewidmet, das immer bekränzt ist.
Das Beispiel der Westvorstadt reizte zur Nachahmung. Die Saat der beiden edlen Männer ging langsam auf. 1874 trat der Schreber-Verein der Südvorstadt, 1881 der der Nordvorstadt in’s Leben, und jeder Verein hat einen stattlichen Schreber-Platz für seine Kinder zur Verfügung. Die Einrichtungen sind bei allen dreien fast dieselben.
In den „Satzungen“ des südvorstädtischen Schreber-Vereins steht: „Der Zweck des Vereins ist, im Sinne des verewigten Dr. Schreber und Director Dr. Hauschild für die leibliche und geistige Erziehung der Kinder nach besten Kräften zu wirken. Für das leibliche Wohl der Kinder sorgt der Verein durch einen gesund gelegenen, mit Gärten umgebenen Spielplatz, sowie durch Förderung und Pflege geeigneter Spiele auf demselben. Er veranstaltet, soweit es die Verhältnisse gestatten, im Sommer gesellige Zusammenkünfte der Mitglieder mit ihren Kindern und ein großes Sommerfest. Im Sommerhalbjahre soll auch, soweit möglich, durch Pflege des Gartenbaues den Kindern Gelegenheit geboten werden zu einer nützlichen und belehrenden Beschäftigung. Zur Hebung und Förderung der geistigen Jugenderziehung veranstaltet der Verein im Winterhalbjahre möglichst allmonatlich eine Vereinsversammlung, in welcher praktische Erziehungsfragen durch Vorträge mit daran sich anschließender Besprechung erörtert werden.“
Und nun hinaus auf den Schreber-Platz!
Unser Bild führt uns den der Südvorstadt vor. Wir gehen auf dem Schleußiger Wege an der Rennbahn vorüber dem Walde zu. Am Waldrande breitet sich auf einem etwa fünf Acker großen Areal eine reizende Gartenanlage aus. Das ist der Schreber-Platz. Wir treten ein, gehen am Wächterhause vorüber und gelangen bald an eine mächtige Wiese, die, in der Mitte des Ganzen gelegen, von allen Seiten mit Gärtchen, circa 150, umgeben ist. Im Hintergrunde der Wiese erhebt sich die stattliche Spielhalle, die bei plötzlich eintretendem ungünstigem Wetter die Kinder aufnimmt.
Jetzt aber kann das Wetter nicht schöner sein, und das Herz geht uns auf bei dem köstlichen Anblick, der sich uns darbietet. Hunderte von Kindern aller Altersstufen spielen in größeren oder kleineren Gruppen auf der Wiese. Hier haschen sich welche, dort werfen andere mit dem Balle, jene Mädchen führen einen zierlichen Turnreigen aus, diese Knaben üben in Schlangenlinien einen Dauerlauf. Dort sitzen ganz kleine Kinder im Grase und spielen mit Blumen, etwas größere spielen Blindekuh, Katze und Maus und andere altbekannte Jugendspiele. Allen aber sieht man es an, wie glücklich sie sich fühlen; Frühling draußen, Frühling innen. Da lernt man Jean Paul’s Wort verstehen: „Ein Blick in ein frohes, heiteres Kinderherz ist ein Blick in’s Himmelreich.“
Hier und da sieht man auch Erwachsene an den Spielen der Kinder Theil nehmen. Das sind glückliche Eltern, die mit ihren Kindern wieder jung werden, oder Mitglieder der Spiel- und Aufsichtscommission, welche zusehen, daß Alles in rechter Weise geschieht. Sie ordnen die Spiele, sie schlichten den Streit. Diese Herren und Damen sind für den Verein von großer Bedeutung, denn sie verstehen die große Kunst, mit Kindern gut zu spielen. Sie sind aber auch in vortrefflicher Schule gewesen, der „alte Gesell“ war ihr Meister.
Wer vor fünf, sechs Jahren den Schreber-Platz besuchte, der bemerkte gewiß bald einen kleinen freundlichen Herrn mit silberweißem Haar und schwarzem Sammetkäppchen, der, fast immer von einer lustigen Schaar umringt, sich mit ganzer Seele den Kindern und ihren Spielen hingab (vergl. unsere Abbildung). Das war der alte Gesell, Leipzigs Spielvater. Der Mann erinnerte nicht nur in seiner äußeren Erscheinung an Pestalozzi, auch in der Art und Weise, wie er mit den Kindern verkehrte, in seinem ganzen Wesen zeigte er große Aehnlichkeit mit dem berühmten Schweizer Pädagogen. Er erinnerte auch an Fröbel – kurz, man sah es ihm auf den ersten Blick an, daß er ein großer Kinderfreund, ein geborener Lehrer war.
Und die Kinder! Sie fühlten sofort, daß dieser Mann mit den klaren, strahlenden Augen zu ihnen gehörte. So, wie er, konnte Keiner erzählen, so verstand Niemand zu spielen. Es
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 371. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_371.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)