Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
|
Millionen Mark beläuft und ihr eigenes angesammeltes Kapital mehr als 180 Millionen Mark beträgt.
Erfolgreicher aber noch als dieser herrliche Triumph eines großen Strebens steht der Grundgedanke desselben vor Aller Augen da. In einer Zeit, in welcher sich die sociale Pfuscherei in der Kunst versucht, Volksbeglückungen durch Staatsactionen hervorzurufen, ist die bereits in aller Stille und ohne jede staatliche Autorität durchgeführte sociale Hülfe durch die Genossenschaften ein glänzendes Zeugniß für die Theorie der Selbsthülfe.
Die Entwickelung dieser Theorie geht über die Grenzen dieser Betrachtung weit hinaus. Wir führen deren glückliche Erfolge nur an als ein Zeugniß des großen Segens, den Schulze durch seine ganz beispiellose Thatkraft in’s Leben gerufen hat.
Die glückliche Verbindung von Geist und Thatkraft, wie sie in Schulze sich verwirklicht hat, gehört zu den größten Seltenheiten in der Welt. Man hat nicht mit Unrecht besondere Geistesbegabung und tiefe Seelenempfindung als den Gegensatz des praktischen Wirkens betrachtet. Dichterische Neigungen und philosophische Anschauungen werden in der Regel von bedeutenden Praktikern als störende Eigenthümlichkeit betrachtet, die zu unausführbaren Unternehmungen verleiten. Nannte man ja selbst die Deutschen eine Nation der Denker und meinte damit ihre praktische Thatenlosigkeit in der Geschichte erklären zu können. Daß gleichwohl in Einzelnen Geistesstärke und Thatkraft sich vereinigen könne, das lehrt ein ernster Blick auf den echten Sohn des deutschen Vaterlandes: Schulze-Delitzsch.
Alles überwiegend aber ist seine Charaktergröße.
Es steht sein ganzes nun abgeschlossenes Leben so rein und licht von jedem Schatten des Eigennutzes und der Selbstsucht vor Aller Augen da, daß selbst die Gegner seiner politischen Grundsätze und des wirthschaftlichen Wirkens nicht umhin können, sein Lob zu verkünden. Es waltet auch in haßverbissenen Gemüthern gegenüber der allgemeinsten Theilnahme, die sein Tod auf’s Neue wachgerufen, ein Schweigen ob von jeder Art von Verleumdung, mit welcher man durch ein ganzes Menschenalter seinen Charakter zu trüben versuchte. Ein sprechendes Merkmal der allgemeinen Verehrung giebt sich auch in den Worten kund, mit welchen der conservative Präsident des deutschen Reichstags, Herr von Levetzow, die Todeskunde in der Sitzung vom 30. April dieses Jahres dem versammelten Hause mittheilte. Es lauteten diese Worte wie folgt:
„Ich habe dem hohen Hause die schmerzliche Mittheilung zu machen, daß unser verehrter Kollege Schulze-Delitzsch, Abgeordneter für den Wahlkreis Wiesbaden-Rheingau, nach längerem Leiden gestern früh in Potsdam gestorben ist. Der Verstorbene gehörte dem Reichstage ununterbrochen seit 1867 an. Wie er sein ganzes Leben der öffentlichen Wohlfahrt gewidmet hat, auf genossenschaftlichem Gebiete unter Aufstellung neuer Gesichtspunkte der Schöpfer war hochbedeutungsvoller, weit über die Grenzen Deutschlands hinausragender Institutionen und Organisationen, deren Berather und Förderer, deren Seele mit voller Hingebung und Frische er blieb bis an seinen Tod, so gilt er auch im Reichstage als ein Muster treuer Pflichterfüllung, auf allen Seiten hoch geschätzt, bei allem Eifer stets sachlich und bereit, auch mit den Gegnern seiner Ansichten sich zu verständigen. Er empfand es sehr schmerzlich, daß seine körperlichen Kräfte ihm in der letzten Zeit nicht gestatteten, unseren Sitzungen regelmäßig beizuwohnen. Wir werden den liebenswürdigen, ehrwürdigen Collegen nimmer vergessen, und zu Ehren seines Andenkens bitte ich Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben.“
Das Haus erhob sich als Zeichen seiner Zustimmung zu dem Urtheile seines Präsidenten. Die achtbarsten Mitglieder aller Parteien fanden sich bei dem feierlichen Begräbnisse des verehrten Mannes in Potsdam ein, wie wir dies in einer Beschreibung des Leichenbegängnisses unseren Lesern noch näher ausführen. Wir aber können diese Charakteristik des Verstorbenen nur mit den Worten schließen:
„Heil dem Vaterlande, wenn nach dem schweren Verluste, der es betroffen, edle Nachfolger des Mannes erstehen, die ihm an Geist, an Thatkraft und Charakterreinheit nachstreben!“
2. Schulze-Delitzsch’s Begräbnißfeier.
Der große Schmerz und die in allen Theilen Deutschlands tiefgefühlteste Trauer, welche der Tod des treuen Volksvertreters Schulze-Delitzsch am 29. April 1883 allen deutschen Herzen bereitet hat, fand durch die zahlreiche Theilnahme an seinem Leichenzuge einen sprechenden Ausdruck.
Das sonst so friedliche Potsdam zeigte am Begräbnißtage, den 3. Mai, dem Fest der Himmelfahrt, schon früh ein ungewöhnlich reges Leben, und dieses wuchs von Stunde zu Stunde, denn aus allen deutschen Gauen strömten Tausende, durch die traurige Kunde vom Tode ihres Schulze-Delitzsch tiefbewegte Männer herbei, um ihren Freund, Berather und Beschützer zur letzten Ruhestatt zu begleiten. Alle beeilten sich, ihre Namen in eine aufgelegte Condolenzliste einzutragen und ihre Kränze und Palmzweige, deren Atlasschleifen mit Widmungen versehen waren, am Sarge des geliebten und verehrten Dahingeschiedenen niederzulegen, welcher, über und über bedeckt mit den lieblichsten Kindern des Frühlings, zur ewigen Ruhe gebettet auf der Bahre lag.
Um 12 Uhr fanden sich die Mitglieder des Reichstages ein, um der häuslichen Feier beizuwohnen, etwa 150 Mitglieder aller Fractionen. Der Trauerfeier, welche im Gartensaale stattfand, wohnten ferner bei der Oberbürgermeister von Forckenbeck aus Berlin, der Vorsitzende der Berliner Stadtverordneten Dr. Straßmann, eine Deputation der städtischen Behörden Potsdams, der Polizeipräsident und Andere. Am Kopfende des von Blumen fast erdrückten Sarges hatte die trauernde Wittwe mit den beiden Söhnen, der Tochter und den übrigen Verwandten des Hauses Platz genommen, Der Chor der Friedenskirche eröffnete die Feier mit dem Gesange: „Wenn ich einmal soll scheiden.“ Daran schloß sich die Leichenrede des Hofpredigers Rogge. Der Geistliche sprach mit Liebe und Wärme von dem Dahingeschiedenen als Familienvater und wußte dessen weltgeschichtliche Bedeutung so verständniß- und liebevoll zu Gehör zu bringen, daß die Rede einen erhebenden und nachhaltigen Eindruck auf die Trauerversammlung nicht verfehlte.
„Auch für ihn,“ sprach der Geistliche, „gilt das Psalmwort: ‚Unser Leben währt siebenzig Jahre und wenn es hoch kommt achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.‘ Mühe und Arbeit ist auch der Grundgedanke seines Lebens gewesen, und von jeher hatte ihm dies als Aufgabe und Inhalt eines Menschenlebens vorgeschwebt. Er hat nicht darnach gestrebt sein Leben in thatenloser Behaglichkeit, im Besitz der Lebensgüter zu verbringen, ihm war es vielmehr verliehen, die Gaben, die ihm Gott gegeben, auszunützen für die Allgemeinheit, seine Kräfte dem Ganzen dienstbar zu machen. – Der Geschichte bleibt es vorbehalten, ein abschließendes Urtheil über seine Bestrebungen zu fällen, aber ein Zeugniß sind wir diesem Sarge schuldig, und wir sprechen es aus dem Herzen des ganzen Volkes, und namentlich der 3500 Vereine, die an ihm einen Berather und Beförderer verloren: bei allen Bestrebungen hat ihm nur Eins vor Augen gestanden, das war die Wohlfahrt seines Volkes und seines Vaterlandes.“
An die tief ergreifende Trauerrede schloß sich der Segensspruch, und während der Chor eine Motette sang, wurde der Sarg mit der sterblichen Hülle des treuen Volksmannes hinausgetragen auf den vierspännigen Leichenwagen.
Sodann setzte sich der riesengroße, mehr als 10,000 Menschen umfassende Leichenzug in Bewegung. Im langsamen Schritt bewegte sich der Zug durch die Stadt über die lange Brücke hinaus (von wo aus das Bild ihn darstellt), dem alten Kirchhofe zu. Unzählige Menschen standen auf den Straßen, und an der langen Brücke hatten Tausende Stand gefaßt, die den Zug sehen wollten, welcher von hier aus einen imposanten Anblick darbot. Die Trauerweisen dreier Musikcorps mischten sich mit dem Geläute der Kirchenglocken und verbreiteten in der ganzen Stadt einen wehmüthigen Ernst. Dem Zuge voran schritt das Musikcorps des ersten Garderegiments, den Trauermarsch Chopin’s weithin schallen lassend. Dann folgten die Gewerkvereine Potsdams, Berlins und anderer Städte, der Berliner Arbeiterverein mit seiner florumhüllten Fahne und der Berliner Verein Waldeck kostbare Kränze an schwarzen Stäben tragend.
Ein zweites Musikcorps schritt dem mit Blumen geschmückten vierspännigen und von Reichstagsdienern escortirten Leichenwagen voraus. Unmittelbar dahinter folgten die Söhne und andere Verwandte des Verstorbenen. Dahinter wurden die Kränze des Großherzogs von Hessen und des Reichs- und Landtagspräsidiums getragen. Es folgten die Abgeordneten des Reichs- und Landtages, etwa hundertfünfzig an der Zahl, darunter die beiden Präsidenten von Levetzow und Ackermann, das gesammte Bureau
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 355. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_355.jpg&oldid=- (Version vom 3.1.2024)