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Seite:Die Gartenlaube (1883) 348 a.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Zwanglose Blätter. Beilage zur Gartenlaube Nr. 21, 1883.




Vom Bücher- und Zeitungstische.

Wir müssen so frei sein, unseren Lesern gleich an der Spitze dieser Nummer zu bemerken, daß wir uns für den Kreis unserer Besprechungen nicht durch den landläufigen Begriff von „Novitäten des literarischen Marktes“ beschränken lassen. Neu ist für das große Publicum nicht blos Das, was soeben die Presse verlassen, sondern gar Manches, das schon Jahre lang im Buchladen liegt, ohne ihm im richtigen Lichte vor Augen geführt oder, wenn es der Ehre werth ist, an’s Herz gelegt worden zu sein. Es ist schon viel gutes Aeltere von minder gutem Neuesten verdrängt worden: auch gegen dieses Unrecht hat eine ehrliche Kritik auf der Wacht zu stehen.

Ein neuer Geschichtsschreiber. Als einen solchen, und zwar auf dem Gebiete der deutschen Particulargeschichtsschreibung, haben wir Adolf Fleischmann[1] zu begrüßen. Wer einen Blick auf die politische Karte der Thüringer Staaten wirft, kann sich einen Begriff machen von der Aufgabe, die sich ein Geschichtsschreiber stellt, wenn er aus diesem Durcheinander von Ländertheilen ein Stück von heutigen politischen Staatsgrenzen herausnehmen und das Schicksal desselben bis in die ältesten Zeiten verfolgen will. Adolf Fleischnmann hat dies unternommen in dem Werke: „Zur Geschichte des Herzogthums Sachsen-Coburg mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte des Gesammthauses Sachsen etc.“ (Hildburghausen, Kesselring’sche Hofbuchhandlung). Wir würden uns unnöthig bemühen, den Werth dieses Werkes besser darzustellen, als ein Freund desselben bereits gethan. Er sagt:

„Welch’ eine Fülle geschichtlichen Materials ist im engen Rahmen hier geboten! Welch’ ein Zeugniß der mühsamsten, gründlichsten, mit klarem Blicke erfaßten geschichtlichen und archivalischen Studien! Und das Ganze ist in edler Sprache abgefaßt, weit entfernt von der Nüchternheit chronikalischer Aufzählungen oder eines ordinären geschichtlichen Stiles. Selbst da, wo wir in den vielfach gewundenen und verschlungenen Verlauf der Fürstenwechsel. Erbfolgen, Ländertheilungen eingeführt werden, fühlen wir bei der klaren Darstellung nicht Ermüdung, sondern Interesse und dankbare Freude über die Ergänzung und Bereicherung unserer Kenntnisse der engeren vaterländischen Geschichte. In nicht wenigen Episoden erhebt sich die Diction zum edelsten Schwunge. Und wenn, abweichend von dem ernsten Gange der Geschichte, Details eingeflochten sind, sich oftmals wohlthuend wie lichte Punkte auf dunklem Grunde abhebend, so sind sie es mit wahrhaft künstlerischem Geschicke, sinnig, nicht unbedeutend, sondern Schlaglichter werfend auf einzelne Persönlichkeiten, wie auf ganze Zeitabschnitte.“

Von diesen Schlaglichtern fällt auch eines auf das geistige Leben des Volkes zur Zeit der Reformation. Wer heute von der Veste Coburg auf die Städte und Dörfer des Landes hinabschaut, sieht und weiß, daß neben jeder Kirche eine Schule steht, und glaubt schwerlich, daß erst im Jahre 1527 der erste Schulmeister in der Stadt Coburg, und zwar durch Martin Luther, angestellt wurde. Eine Buchdruckerei bestand damals ebenso wenig wie eine Apotheke, und ein Arzt wird zuerst 1548 genannt.

„Daß man,“ sagt unser Buch, „bei solchen Verhältnissen selbst höchsten Orts seine Zuflucht zu Hausmitteln nahm, war sehr erklärlich. Die Gräfin Elisabeth von Henneberg z. B. bediente sich gegen ihr Steinleiden des Fleisches eines drei Wochen lang mit Wein getränkten Bockes, den der Apotheker in Meiningen zum Gebrauch einstellen mußte, wozu der Rentmeister der Gräfin den Wein, und zwar so viel, als der Bock trinken würde, dem Apotheker täglich zu liefern hatte. – Und diese Zeit, so einfach, fast kindlich, wenn wir den geistigen Bildungsgrad der Nation in’s Auge fassen, war zugleich die entwickeltste und anspruchsvollste, wenn es sich um den Lebensgenuß handelte. Wir kennen Alle so manche Bilder aus jener Zeit und finden welch’ reichbesetzte Tafeln! welche Farben- und Formenpracht der Gefäße, der Geräthe, der Männer- und vollends der Frauenkleidung! welch’ eine Mischung noch anderer sinnlicher Genüsse an Speise, Trank, Musik, vollen Wangen und schwellenden Frauengestalten! welches Lachen über den Witz des rothfarbigen Spaßmachers, der bei solchen Gelegenheiten nie fehlen durfte! Diese Bilder sind nicht Phantasiestücke, sondern treu gemalte Art und Sitte jener Zeit.“

Sehr werthvolle und interessante Abschnitte des Werkes enthalten eine Geschichte der gefürsteten Grafschaft Henneberg, der Herrschaft Saalfeld, der landständischen Verfassung in Coburg bis Ende des achtzehnten Jahrhunderts, vor Allem aber ein Lebensbild des Prinzen Friedrich Josias von Coburg-Saalfeld, kaiserlich österreichischen und des deutschen Reichs General-Feldmarschalls. Der edle Held steht bei den Männern der Kriegswissenschaft in hohem Ansehen. Er hat, nachdem er schon im siebenjährigen Kriege tapfer mitgefochten, 1788 die Türken in mehreren Schlachten besiegt, die Walachei erobert und seinen Siegereinzug in Bukarest gehalten. Im Jahre 1793 mußte er die Führung des Krieges gegen die Franzosen in den Niederlanden übernehmen, gegen seinen ausgesprochenen Willen, denn sein Scharfblick erkannte, daß bei der Zusammensetzung des Heeres aus Oesterreichern, Preußen, Holländern, Engländern und der Reichsarmee der Mangel an einheitlicher Organisation des Commandos der verbündeten Truppen seinen Unternehmungen gefährlicher werden könnte, als der Feind. Und so geschah es. Nachdem der Prinz trotzalledem die Franzosen in zwei Schlachten besiegt („Pitt und Coburg!“ war ein französischer Schreckensruf jener Tage) und vier Festungen erobert hatte, brach die Zwietracht, noch von Wiener Hofintriguen geschürt, aus, und mehrere Schlachten und Festungen gingen wieder verloren. Der Feldherr legte entrüstet seinen Stab nieder, nachdem auch sein patriotischer Aufruf an die Nation um Hülfe unerhört geblieben war. Dieses unverschuldete Mißgeschick verleitete dennoch den berühmten Schlosser in Heidelberg, über diesen Feldherrn in seiner „Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts“ das Urtheil „militärischer Unfähigkeit“ zu fällen. Dem großen Geschichtsschreiber schreiben alle kleinen nach, für sie ist A. v. Witzleben’s dreibändige Lebensbeschreibung des Prinzen nicht vorhanden, und so geht Schlosser’s Herabwürdigung des edlen Helden von Buch zu Buch bis in die Schulbücher über. Es ist ein großes Wort: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ – nur sollten Geschichtsprofessoren unsträfliche Muster von Gerechtigkeit und Gewissenhaftigkeit sein, wenn sie die Rolle von Weltgerichtsräthen spielen wollen.




Herman Semmig’s Schriften. Von Herman Semmig’s in den letzten Jahren erschienenen vier Werken haben wir zwar zwei unsern Lesern bereits genannt. Wiederholte Anfragen nach denselben veranlassen uns, um den Anfragenden ein für allemal gerecht zu werden, zur vollständigen Aufführung derselben mit den nöthigen Bemerkungen. Als Semmig’s bedeutendstes Werk stellen wir voran:

„Die Cultur- und Literaturgeschichte der französischen Schweiz und Savoyens“. In ihrer selbstständigen Entwickelung zum ersten Male dargestellt. Zürich, 1882. Trüb’sche Buchhandlung (Th. Schröter). Die Literatur der „Französischen Schweiz“ bildet einen Gegensatz zur eigentlichen französischen Literatur, sie bietet eine französisch-protestantische Literatur, die sich in republikanischen Staaten entwickelt hat, während diejenige Frankreichs auf Grund einer despotischen Monarchie entstanden ist. Sodann ist es denen, welche die französische Sprache erlernen wollen, bei dem Deutschenhaß in Frankreich schwierig, jetzt daselbst ihre Studien zu machen; sie müssen darum in die Schweiz gehen, und aus Semmig’s Buche erlernen sie die Geschichte und die Literatur derselben. Endlich bringen ganze Familien den Sommer in der französischen Schweiz zu; dieses Buch ist die beste Vorbereitung zur Ausnutzung dieses Aufenthaltes, sowie die angenehmste Erinnerung nach der Reise. In dem Buche sind alle Dichter und Prosaiker dieser französisch sprechenden Länder angeführt, die Dichter meist mit ausgewählten Poesien. Auch die dortige Volkssprache (das sogenannte Patols in Greyerz) lernen wir kennen, z. B. den Anfang des Kuhreihens etc.

„Das Kind, Tagebuch eines Vaters“ (Rudolstadt, H. Hartung und Sohn, 2. Auflage) ist ein Gemälde der Familie von der Geburt des ersten Kindes an, um das sich alles Andere gruppirt; es macht, wie viele Mütter dem Verfasser selbst gesagt haben, die Frauen auf eine Menge von Beobachtungen und Genüssen des Geistes und Herzens aufmerksam, die so vielen Müttern ganz entgehen. Lehrer haben dem Verfasser für verschiedene darin enthaltene pädagogische und psychologische Winke gedankt. Religiöse Gemüther waren dadurch um so tiefer und wahrer erbaut, als das Buch frei von Gewissenszwang und confessioneller Engherzigkeit ist und doch den Materialismus mit überzeugender Rede bekämpft.

„Das Frauenherz“, (Leipzig, E. Kempe). Lebensbilder und Dichtungen, reich an Abwechselung und durchstreut mit unterhaltenden Erzählungen und Geschichten aller Art, schildert das Weib in allen gesellschaftlichen Stellungen als Kind, Jungfrau, Braut, Gattin, Mutter, Hausfrau, Wittwe, Großmutter, Lehrerin. Es ist ein hervorragendes gegenseitiges Festgeschenk unter Liebenden (zahlreiche Lieder der Liebe!), Brüdern und Schwestern, Brautleuten, Gatten, und ergänzt vielfach „das Kind“.

Das „Französische Frauenleben“ (Leipzig, Alfred Krüger) bekämpft die Vorurtheile, die der Chauvinismus, an welchem Deutschland wie Frankreich leidet, gegen die Französinnen hegt und verbreitet. Dieses jüngste Werk H. Semmig’s, das überaus reich an fesselnden Novelletten und Erzählungen ist und auch manche bekannte Episode am Hofe Ludwig’s des Vierzehnten, z. B. die der Louise de la Vallière, von neuem Gesichtspunkte aus beleuchtet, bildet eine sittengeschichtliche Ergänzung zu der „Cultur- und Literaturgeschichte der französischen Schweiz“ desselben Verfassers. Wir empfehlen dieses „Französische Frauenleben“ im Augenblick besonders wegen der darin enthaltenen scharfen Streiflichter auf den deutsch-französischen Conflict; die Vergleichung des deutschen und französischen Frauenlebens muß die Leserinnen noch besonders interessiren.

Daß Semmig vollkommen competent zu diesen Werken ist, sagt uns sein zwanzigjähriger Aufenthalt jenseits der Vogesen. Er hat Frankreich in allen Richtungen durchwandert, mit allen Volksschichten verkehrt, zwei Jahre lang Savoyen bewohnt und zweimal die französische Schweiz bereist; er kennt alle von ihm geschilderten Geistesströmungen aus persönlichem Verkehr. Zwölf Jahre lang war er an französischen Gymnasien angestellt, hat 1861 in Paris sein Examen als Oberlehrer für neuere Sprachen und Literaturen und 1865 dasselbe als Titularprofessor bestanden


  1. Dieser coburgische Geschichtsschreiber, Justizamtmann a. D. in Coburg, ist nicht zu verwechseln mit dem Sonneberger Commerzienrath gleichen Namens, dessen wir in dem „Spaziergang durch das Thüringer Spielwaarenland“ (Nr. 17 u. 18 der „Gartenlaube“) zu gedenken hatten.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 859. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_348_a.jpg&oldid=- (Version vom 23.1.2024)