Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
|
des weithin berühmten rheingauer Weinproducenten Dr. juris August Wilhelmj zu Hattenheim am 21. September 1845 zu Usingen im Regierungsbezirke Wiesbaden das Licht der Welt erblickt. Seine Mutter, Charlotte geborene Petry, war selbst eine gefeierte Künstlerin, Schülerin des bekannten Hofraths Anton André zu Offenbach, sowie von Frederic Chopin und Marco Bordogni zu Paris. Hierzu gesellte sich der für ein aufstrebendes Geigengenie günstige Umstand, daß auch der Vater ein großer Musikverständiger und namentlich hervorragender Dilettant auf der Violine ist.
Die Erziehung August’s in einem der ersten und dazu musikalischesten und gastfreiesten Häuser an der großen Verkehrsstraße des Rheinstromes, in einer Familie, in welcher von jeher die Kunst die höchste Rolle gespielt und welche den Größen der Kunst und Wissenschaft stets offen gestanden hat, konnte nur von günstigem Einflusse auf den Knaben sein. Der Vater erkannte früh das Talent und wählte als Lehrmeister des Knaben den herzoglich nassauischen Hofconcertmeister Conrad Fischer zu Wiesbaden, unter dessen rühmlicher Leitung sich die musikalischen Anlagen des Schülers entwickelten, ja überraschend bald eine gewisse Reife erlangten, sodaß Henriette Sontag, als sie Anfangs der fünfziger Jahre zum Besuche in dem Wilhelmj’schen Hause weilte und den Jungen hörte, von der bereits eigenthümlichen Tonbildung und auffallenden minutiösen Reinheit überrascht, begeistert ausrief: „Du wirst ’mal der deutsche Paganini werden!“
Des ersten öffentlichen Auftretens Wilhelmj’s darf sich die alte Lahn- und Bischofsstadt Limburg rühmen, wo derselbe am 8. Januar 1854 in einem Concerte zum Besten der Stadtarmen seine Hörer entzückte. Zwei Jahre später, am 17. März 1856, bestand der Knabe im Hoftheater zu Wiesbaden vor einer zahlreichen und kunstverständigen Zuhörerschaft die Feuerprobe, aus der er glänzend hervorging.
Besorgt, daß sein Sohn dem sehr häufigen Schicksale sogenannter musikalischer Wunderkinder verfallen möchte, bestimmte August’s Vater ihn für den Gelehrtenstand und ließ sich erst durch unablässiges Bitten und Drängen bewegen, die Berufsentscheidung von dem Urtheile eines competenten Richters abhängig zu machen. Kein Geringerer als Franz Liszt war hierzu ausersehen, und freudigen Herzens begab sich August, der Verwirklichung seiner heißesten Wünsche näher gerückt, mit Empfehlungen des Prinzen von Sayn-Wittgenstein versehen im Frühjahre 1861 zu dem Altmeister nach Weimar. Hier brachten die Vorträge von Louis Spohr’s „Gesangsscene“ und H. W. Ernst’s „Ungarische Weisen“ die Wagschale der Schicksalsbestimmung Wilhelmj’s zum Steigen und retteten dem deutschen Volke seinen ersten Geiger. Liszt, welcher den Examinanden auf dem Clavier begleitete, sprang auf und rief:
„Und da konnte man noch über Ihren Beruf schwanken?! … Die Musik ist Ihnen angeboren! … Sie sind so sehr für die Geige prädestinirt, daß dieselbe für Sie hätte erfunden werden müssen, wäre sie noch nicht dagewesen! Arbeiten Sie fleißig weiter, die Welt wird von Ihnen reden, junger Mann!“
Diese classischen Worte zerstreuten natürlich alle Wolken des Zweifels, und ein sonniges Land der Zukunft lag vor Wilhelmj ausgebreitet, als er einige Tage darnach mit Liszt nach Leipzig fuhr, wo dieser ihn dem berühmten Ferdinand David zur weiteren Ausbildung mit den Worten anvertraute:
„Hier bringe ich Ihnen den zukünftigen zweiten Paganini – sorgen Sie für ihn!“
So studirte nun Wilhelmj von 1861 bis 1864 auf dem Leipziger Conservatorium der Musik, dessen Zierde und Stolz er fortan bildete und unter dessen übrigen Schülern er eine ähnliche Rolle spielte, wie weiland Schiller unter den Karlsschülern. Moritz Hauptmann und Ernst Friedrich Richter waren seine Lehrer in der Theorie der Musik, welche später, als Wilhelmj wieder in Wiesbaden lebte, in dem Symphoniker Joachim Raff ihren Nachfolger fanden.
Seine Cameraden aber in Leipzig staunten ihn als ein Wunder an, und oft ward er in seiner Wohnung um Extraproben seiner Virtuosität bestürmt. Bei einer solchen Gelegenheit spielte er einmal die berühmte Ernst’sche Transcription des „Erlkönig“ von Fr. Schubert mit solch technischer Makellosigkeit und zugleich mit derartig dramatischem Accente, daß der alte David freudestrahlend ausrief:
„Nein, Schwierigkeiten giebt’s für ihn nicht mehr – er ist ein wahres Phänomen!“
Nachdem Wilhelmj in der Folge, während seiner Studienzeit, auch schon in der Oeffentlichkeit gelegentlich einer Prüfung des Conservatoriums (9. April 1862), mit dem Vortrage des Concerto Pathetique (Fis-moll) von Ernst Sensation gemacht hatte, erregte er am 24. November desselben Jahres – noch ein Conservatorist! – bereits in einem Gewandhausconcerte mit dem Vortrage des „Concertes in ungarischer Weise“ von Joseph Joachim unbeschreiblichen Enthusiasmus und legte so auf diesem classischen Boden der Tonkunst den Grundstein seines Weltrufes.
Ferdinand David faßte die freundschaftlichste Zuneigung zu seinem Schüler und zog ihn immermehr in seine Nähe. Im Hause David’s verkehrte damals dessen kunstsinnige Nichte, die Freiin Sophie von Liphart, welche später (29. Mai 1866) Wilhelmj’s Gattin wurde.
Wilhelmj’s erste Kunstreisen (1865 bis 1866) galten der Schweiz und Holland; von da ging er nach London. Dank dem Einflusse Jenny Lind’s trat er am 17. September 1866 in einem der großen Concerte Alfred Mellon’s im königlichen Coventgarden-Theater auf. Sein Spiel versetzte das Publicum in die Zeit des ersten Auftretens Nicolo Paganici’s zuruck. Von der Themse eilte der junge Kunsttriumphator an das Ufer der Seine. In einem der berühmten Concerts populaires von Pasdeloup in Paris (am 20. Januar 1867) erregte der deutsche Geiger bei den verwöhnten Franzosen – acht Tage nach Joachim’s Auftreten – derartiges Entzücken, daß sie ihn „le nouveau Paganini“ nannten. Niemals aber hat thatsächlich in Paris ein Künstler oder eine Künstlerin solches Aufsehen erregt, wie damals unser Landsmann.
Doch Europa ist groß, größer die Welt, aber noch größer die Wanderlust und der künstlerische Thatendrang in der Brust eines Jünglings, welchen bereits die ersten Lorbeeren zum vollen Bewußtsein seiner Mission gebracht haben. Schon im Herbste 1867 sehen wir Wilhelmj in Italien, wo ihm seine unvergleichbaren Leistungen in der classischen Musik die Ernennung zum Professor der „Società di quartetto“ in Florenz eintrugen. Einige Monate später (Januar 1868) finden wir ihn in St. Petersburg wieder, wohin er einer Einladung der kunstverständigen Großfürstin Helena Pawlowna gefolgt war. Hier wohnte er im „Palais Michel“ mit anderen Berühmtheiten zusammen, darunter Hector Berlioz, dem „französischen Beethoven“, welcher damals jenen denkwürdigen Ausspruch that:
„Niemals habe ich einen Geiger mit einem solch eminenten, bezaubernden und edeln Ton gehört, als August Wilhelmj – ich gestehe, seine ganze Art und Weise hat etwas Phänomenales!“
Daß Wilhelmj’s erstes öffentliches Auftreten (am 27./15. Januar 1868) die Czarenstadt in förmliche Ekstase versetzte, läßt sich leicht denken. Nun folgen die Concertreisen in fast ununterbrochener Reihe: die Schweiz, Frankreich und Belgien, England, Schottland, Irland, Holland, Schweden, Norwegen und Dänemark bildeten den Schauplatz seiner Triumphe. In Stockholm ward er Ehrenmitglied der königlich schwedischen Akademie, ferner feierte man ihn durch Orden, durch die Ueberreichung eines Ehrendegens etc. Der Winter 1872 auf 1873 führte unsern Meister zum ersten Male auf eine größere Reise durch Deutschland und Oesterreich. Dieselbe gestaltete sich für Wilhelmj um so glänzender, als mit ihr seine Debüts zu Berlin (in der Singakademie 22. October 1872) und Wien (23. März 1873 im großen Musikvereinssaale) verbunden waren. Die Erfolge in diesen Metropolen waren geradezu epochemachend. 1874 bis 1877 weilte Wilhelmj meist in England und seine künstlerische Vielseitigkeit brach sich hier auf einem anderen musikalischen Felde durchschlagende Bahn. Wir finden ihn, der Virtuosenlaufbahn etwas abseits, in der rührigsten Progaganda für Richard Wagner. Er brachte die Wagner-Concerte in London zu Stande und veranlaßte sogar (Mai 1877) den Meister, hinüberzukommen, unter dessen Oberleitung er bei den vielbesprochenen „Wagner-Festen“ in der königlichen Albert-Halle das aus zweihundert Mitgliedern bestehende Orchester führte.
Besonders zu betonen bleibt noch, daß diesem Wirken jenseits des Kanals die Thätigkeit bei den Bühnenfestspielen zu Bayreuth vorausging, bei welchen August Wilhelmj bekanntlich des schwierigen Concertmeisteramtes mit einem seltenen Fleiße und verständnißvollen Aufgehen in dem Wagner’schen Genius waltete. Aus dieser Zeit
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_338.jpg&oldid=- (Version vom 25.5.2023)