Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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zurückhalten, aber schon im nächsten Augenblicke besann er sich und blieb regungslos stehen, nur sein Auge folgte der hohen, ernsten Gestalt, folgte ihr wie gebannt, bis sie im Nebenzimmer verschwand. Dann sagte er halblaut, aber mit einem Ausdruck unendlicher Bitterkeit:
„Es ist noch Mancher elend, außer Euch Beiden – und vielleicht mehr als Ihr!“ –
Während Lily’s Zukunft Anlaß zu solcher scharfen Meinungsverschiedenheit zwischen ihrer Schwester und dem Pfarrer gab, befand sich die junge Dame in einer Situation, die mit den Gedanken an ihre baldige Vermählung nicht recht in Einklang zu bringen war.
Sie trug nämlich auf dem Kopfe einen Papierhut von riesigen Dimensionen, sehr künstlich aus alten Zeitungen gefertigt, dessen Spitze ein Büschel alter Pfauenfedern zierte, die sich irgendwo in einem Winkel gefunden hatten. In der Hand dagegen hielt sie einen großen Heurechen, der als Gewehr diente, und in dieser Ausrüstung commandirte, exercirte und manövrirte sie nach allen Regeln der Kriegskunst, während der kleine Toni vom Mattenhofe, der in ähnlicher Weise ausstaffirt war, als freiwilliger Recrut bei ihr das Exerciren lernte.
Der alte Gärtner, der in Werdenfels gewesen war, hatte den Kleinen von dort mitgebracht, wie dies öfter geschah, denn Toni war ein besonderer Schützling der Frau von Hertenstein. Sie nahm sich in jeder Hinsicht des verwaisten Knaben an, und heute sollte sich dieser in dem neuen Anzuge präsentiren, den die gnädige Frau ihm kürzlich geschenkt hatte. Der Großvater konnte ihn nicht begleiten, da die schwere Tagesarbeit, mit der er sich und das Kind ernährte, keine Unterbrechung erleiden durfte.
Der Gärtner war soeben mit seinem Schutzbefohlenen angelangt, als Fräulein Lily erschien und sich schleunigst des willkommenen Spielcameraden bemächtigte, denn sie trieb noch gar zu gern Kinderpossen und ließ sich selten eine Gelegenheit dazu entgehen.
Sie nahm den Kleinen mit sich in den Garten, und nach verschiedenen Streifzügen gelangten Beide in das Gartenhaus, das zwar im Winter nicht benutzt wurde, aber unverschlossen war. Da es draußen ziemlich kalt war, so wurde der Spielplatz in den kleinen Gartensaal verlegt, und das Soldatenspiel, zu dem die Requisiten aus allen Ecken und Winkeln hervorgesucht wurden, war bald in vollem Gange.
Toni zeigte sich dabei geradezu als ein militärisches Genie. Er begriff jedes Commando, hielt Tact bei dem Marschiren und gewann die volle Zufriedenheit des jugendlichen Commandanten.
Das Gartenhaus lag am äußersten Ende der Besitzung, auf einem keinen Rasenhügel, und unmittelbar daran vorüber führte ein Fahrweg, der eine Strecke weiter in die Landstraße mündete und auf dem soeben ein eleganter offener Jagdwagen heranrollte. Der Herr, neben dem ein alter Diener in dunker Livrée saß, lenkte die Pferde selbst, aber er mäßigte ihre schnelle Gangart immer mehr, je mehr er sich Rosenberg näherte.
Paul Werdenfels pflegte mit Vorliebe gerade diesen Weg zu benutzen, wenn er nach Buchdorf fuhr, obgleich derselbe sehr schlecht und uneben war, aber er führte dicht an dem Landgute vorüber, während die Chaussee einen weiten Bogen machte. Bisher war es dem jungen Manne aber noch nicht geglückt, im Vorbeifahren eine der Bewohnerinnen zu erblicken, er war freilich auch nur selten auf seinem Gute gewesen. Heute aber, wo er ebenfalls von dort kam, schien ihm der Zufall günstiger zu sein, denn aus der offenen Thür des Gartenhauses tönte übermüthiges Lachen und der laute Jubel einer Kinderstimme.
Paul kannte dies frische silberhelle Lachen, das damals am Schloßberge seine unfreiwillige Niederfahrt begleitet hatte, nur zu gut. Er schwankte kaum einen Augenblick, Frau von Hertenstein wußte ja jetzt um seine Correspondenz mit ihrer Schwester, da durfte er sich schon eine Ueberraschung erlauben.
„Nimm die Zügel, Arnold,“ sagte er rasch. „Ich will nur einen Augenblick die Damen begrüßen und komme sogleich wieder zurück. Du wartest inzwischen hier.“
Dann schwang er sich leicht vom Bock, öffnete die kleine Thür in der niedrigen Gartenhecke, die gleichfalls unverschlossen war, und trat ein.
Lily hatte sich soeben an die Spitze ihres Kriegsheeres gesetzt und führte einen wundervollen Parademarsch aus, wobei sie mit lauter stimme commandirte, plötzlich aber machte sie ohne jegliches Commando Halt, denn vor ihr stand der junge Baron Werdenfels und maß mit etwas verwundertem Blicke den Papierhut und den Heurechen.
Das junge Mädchen wurde dunkelroth; in den freudigen Schreck über dies unverhoffte Wiedersehen mischte sich eine peinliche Verlegenheit. Es war aber auch gar zu fatal, sich so überraschen zu lassen, nachdem sie so lange die Rolle eines tröstenden Schutzengels gespielt hatte und dem Tröstungsbedürftigen eine Art von Ideal geworden war. Zum Glück war Paul ebenso verlegen wie sie.
„Verzeihung, wenn ich störe,“ sagte er stockend. „Ich fuhr gerade vorüber und da – da wollte ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen, mein Fräulein.“
„Ich danke,“ versetzte Lily, gänzlich aus der Fassung gebracht. „Ich befinde mich ganz wohl – ich spielte Soldat mit dem Toni!“
Sie nahm in ihrer Verwirrung den Heurechen von der rechten Hand in die linke, ohne ihn jedoch loszulassen. Toni machte es pflichtschuldigst ebenso mit seinem Stock, denn er folgte genau jeder Bewegung seines Exercirmeisters.
„Sie dürfen mir nicht zürnen wegen dieses Ueberfalles,“ nahm Paul wieder das Wort. „Es war wirklich nur ein Zufall, der mich vorüberführte, aber da hörte ich Ihre Stimme und da – konnte ich es nicht länger aushalten, ohne Sie wiederzusehen.“
Lily’s ganzes Gesicht war wie in Gluth getaucht, obgleich die Worte sie nicht eigentlich überraschten. Die Briefe des jungen Baron waren in der letzten Zeit so unzweideutig geworden, daß sie nicht mehr länger im Zweifel sein konnte, wem seine Huldigung jetzt galt. Damit war aber auch die Unbefangenheit geschwunden, mit der sie ihm sonst begegnete. Sie wußte freilich nicht, wie reizend sie ihm gerade in dieser Verwirrung und Verlegenheit erschien. Er fand, daß ihr der Papierhut zum Entzücken stand, und sogar das unförmliche Heu-Instrument störte nicht seine Bewunderung.
Jetzt aber machte sich der kleine Toni bemerkbar, der mit großem Mißvergnügen die Unterbrechung des Spiels empfand. Er machte dem fremden Herrn den Vorschlag, sich gleichfalls zu bewaffnen und an dem Exercitium theilzunehmen, Fräulein Lily werde commandiren.
Diese Zumuthung gab der jungen Dame die verlorene Haltung zurück, sie wußte ganz genau, wie sie fortgeschickt wurde, wenn ihre Gegenwart unbequem wurde, deshalb nahm sie die strenge Miene Gregor’s an und sagte würdevoll:
„Geh hinaus, Toni! Ich habe mit dem fremden Herrn zu reden – wichtige Dinge!“
Toni zog ein Gesicht, da er aber ein folgsames Kind war, so gehorchte er der Weisung und setzte draußen das Spiel auf eigene Hand fort, indem er Schildwacht stand und vor der Thür auf- und abmarschirte.
Lily schulterte wieder ihren Rechen, den sie so krampfhaft festhielt, als ob das Leben davon abhinge, jetzt aber nahm ihn Paul sanft aus ihrer Hand und lehnte ihn an die Wand.
„Legen Sie doch dies Ungethüm bei Seite,“ bat er. „Sie stehen so kriegerisch da, daß ich es gar nicht wage, Ihnen zu nahen, und ich habe Ihnen doch so viel, so unendlich viel zu sagen. Ich wäre längst nach Rosenberg gekommen, wenn ich es gewagt hätte. Ich wußte ja nicht, ob Frau von Hertenstein meinen Besuch überhaupt annehmen würde, und Sie, Lily – wäre ich Ihnen willkommen gewesen?“
Lily gab keine Antwort, aber ihr Blick sprach deutlicher als Worte und er wurde verstanden, denn Paul trat näher und beugte sich zu ihr herab, während er mit steigender Wärme fortfuhr:
„Ich habe in der letzten Zeit sehr oft geschrieben und wohl auch sehr offenherzig. Sie müssen es ja wissen, was ich Ihnen zu sagen, was ich von Ihnen zu erbitten habe – werde ich vergebens bitten?“
Da flog es wie ein Schatten über die Züge des jungen Mädchens und in ihren hellen braunen Augen glänzte eine Thräne, als sie leise, mit halb erstickter Stimme, erwiderte:
„Was kann ich Ihnen denn geben? Sie haben ja meine Schwester geliebt!“
„Ja, ich habe sie geliebt!“ sagte Paul ernst, „und ich will diese Liebe nicht herabsetzen und verkleinern, auch vor Ihnen
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_335.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2024)