Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Die Krönungsburg der Czaren.[1]
In den Tagen, da die vorliegende Nummer unseres Blattes zur Ausgabe gelangt, sind die Blicke der Welt spannungsvoll auf die alte Czarenstadt an der Moskwa gerichtet. Alexander der Dritte, Kaiser aller Reussen, der nach dem tragischen Ende seines Vaters im März 1881 den russischen Thron bestiegen, begeht erst jetzt die aus gewichtigen Gründen wiederholt und lange hinausgeschobene Feier seiner officiellen Krönung. Wie unsern Lesern bekannt, repräsentiren die Beherrscher unseres nordischen Nachbarreiches neben der höchsten staatlichen zugleich die höchste kirchliche Gewalt: sie sind Kaiser und Patriarchen in einer Person, und so hat denn eine russische Czarenkrönung nicht blos eine politische, sondern gleichzeitig eine wesentlich religiöse Bedeutung, dergestalt, daß, bevor dieser Ceremonie genügt worden, der neue Czar dem rechtgläubigen Russen von altem Schrot und Korn kaum als rechtmäßiger, als legitimer Herrscher erscheinen mag. Fast siebenundzwanzig Jahre sind verstrichen, seit der Welt sich zum letzten Male dieses imposante Schauspiel geboten; um so weniger mögen wir die sich eben jetzt wieder darbietende Gelegenheit, unseren Lesern den auch an sich, durch seine Größe und Pracht denkwürdigen Schauplatz einer solchen Feier im Wort und Bild zu veranschaulichen, unbenützt vorübergehen lassen.
„Wer Neapel gesehen, der mag ruhig sterben,“ sagt ein bekanntes italienisches Sprüchwort. „Wer Moskau nicht gesehen hat, der weiß nicht, was schön ist,“ meint ein russisches Seitenstück. Und wirklich, sie haben Beide Recht, Jeder in seiner Art, der ernste und bedächtige Steppensohn aus dem äußersten europäischen Nordosten nicht minder als der sorglos bewegliche Anwohner des zauberhaften Golfs im Süden. Denn ohne Frage bietet auch der altehrwürdige Czarensitz, in dessen Straßen man einer wahren Musterkarte sämmtlicher Völkertypen des unendlichen Reiches begegnet, eine Fülle eigenartiger, interessanter, malerischer Erscheiunungen. Gleich Rom und Byzanz ist auch Moskau eine „Siebenhügelstadt“; aber hier ist noch nicht das Morgenland mit seiner sonnenglänzenden Farbenpracht, hier ist auch nicht mehr das alte Europa im westlichen Sinne; was uns hier entgegentritt, das ist ein überaus charakteristisches Gemisch von beiden, eine Verschmelzung von Orient und Occident, die auf den fremden Beschauer eine überraschende, man könnte sagen, eine verblüffende Wirkung ausübt. Wem immer es beschieden war, sein Ange über dieses fast unabsehbare Häusermeer mit seinen rothen und grünenu Dächern, mit den buntbemalten Thürmen, mit den schier unzähligen goldenen Kuppeln und Kreuzen dahinschweifen zu lassen, dem wird sich die eigenartige Großartigkeit dieses Panoramas für immer unverlöschlich eingeprägt haben, dem wird die Begeisterung und die fast kindliche Verehrung, mit der der echte Russe seiner alten Reichshauptstadt gedenkt, begreiflich erschienen sein. Aber noch mehr: auch mit dem Nimbus einer gewissen Heiligkeit ist „die Stadt der weißen Mauern“ für den Altrussen umwoben: während er auf St. Petersburg, diese modern künstliche Schöpfung eines eisernen Autokraten, scheelen und überlegenen Blickes hinabsieht, erscheint ihm sein zärtlich geliebtes „Mütterchen Moskau“ als der Mittelpunkt seines Glaubens, seiner Vaterlandsliebe, seiner Geschichte, hier schlägt das Herz seines Reiches, und nur hier stellt sich der feierliche Act der Czarenkrönung ganz und voll als die heilige Handlung dar, als die er sie auffaßt.
- ↑ Wir empfehlen Angesichts des allgemeinen Interesses, welches gegenwärtig die Ereignisse im russischen Reiche beanspruchen, das soeben im Erscheinen begriffene, treffliche Prachtwerk „Rußland, Land und Leute“, herausgegeben von Hermann Roskoschny (Leipzig, Greßner u. Schramm).
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 328. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_328.jpg&oldid=- (Version vom 2.1.2024)