Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
|
wegen des noch allgemein verbreiteten Aberglaubens, daß Brillentragen die Augen verderbe oder vielmehr schwäche, indem man fälschlich annimmt, Jedermann sei, sobald er einmal die erste Brille zu benutzen angefangen habe, dadurch zur Anschaffung immer stärkerer gezwungen. Das ist nun freilich richtig, aber daran ist das Brillentragen als solches bei Weitsichtigkeit nicht schuld, sondern die mit jedem neuen Lebensjahre ganz naturgemäß zunehmende Schwäche des Anpassungsmuskels. In Wirklichkeit ist es sogar fehlerhaft und schlimm, wenn möglichst lange mit Benutzung der ersten Brille gezögert wird, weil dann sofort eine starke gewählt werden muß, an die man sich viel schwerer gewöhnt, als an eine schwache, an deren Stelle man nach Maßgabe der zunehmenden Jahre eine etwas stärkere setzt, sobald die vorher benutzte nicht mehr ausreicht. Wer z. B. im 45. Jahr Nr. 70 in Gebrauch nimmt und im 48. zu Nr. 50, dann im 50. zu Nr. 40 steigt, ist entschieden in einer vortheilhafteren Lage, als derjenige, welcher sich unter Beschwerden aller Art, die ihm das Lesen verursachte, wie Augenweh, Kopfweh etc., so lange hinschleppte, bis er im 50. gar nicht mehr lesen konnte und nun sofort mit Nr. 40 beginnen mußte. Jener Erste schonte seine Augen durch seine Verfahrungsweise mehr, als der, welcher hartnäckig bis zum 50. Jahre wartete, und blieb frei von Beschwerden; jener beugte den Beschwerden klugerweise vor, dieser ließ sich später erst zu seinem Schaden durch sie zum Brillentragen zwingen.
Daß oft zu schwache Altersbrillen getragen werden, hängt gleichfalls mit dem soeben genannten Vorurtheil zusammen: man meint, allenfalls zu schwache Brillen könnten nicht schaden, wohl aber starke stets. Das ist jedoch ganz falsch! Gerade zu schwache Brillen schaden immer, weil sie die ausgefallene Anpassungskraft nicht ganz ersetzen und dadurch das an sich schon altersschwache Auge noch zu solchen Anstrengungen veranlassen, die es gar nicht mehr leisten kann. Daraus erwächst dann Augenweh durch Ueberanstrengung, ja selbst entzündliche Augenreizung mit Thränenfluß etc., die eine stärkere, aber dem Alter angemessene Brille nie verursacht haben würde. Seltener werden zu starke Brillen ausgesucht; doch kommt auch das vor. Auch sie sind schädlich und machen ähnliche Beschwerden, wie zu schwache.
Gewöhnlich liegt die Ursache der Auswahl zu starker Gläser darin, daß sie bei schlechter Beleuchtung probirt wurden, andermal darin, daß sie während der kurzen Zeit des Probirens ganz feine Gegenstände (Nadelöhre u. dergl. m.) schärfer sehen ließen, als schwächere; das hält aber dann für die Dauer nicht an und die Brille macht wahrhafte Augenqualen. Trotzdem werden auch sie oft lange beibehalten, weil man sich nicht entschließt, eine bezahlte falsche Brille durch eine richtige zu ersetzen, die eine kleine neue Ausgabe nöthig machen würde. Wird doch dem edelsten Sinne gegenüber auf unglaubliche Weise gespart, wie aus den folgenden Darlegungen noch mehrfach ersichtlich sein wird, voran aber aus Fällen, wie derjenige ist, den wir nach dem Leben jetzt erzählen wollen, der natürlich auch auf manches Väterchen und andere Leute paßt.
In die Sprechstunde des Augenarztes kommt ein Mütterchen, „das gern liest“ und sofort eine Brille auskramt, die auf den ersten Blick als ein wahres Muster sich darstellt, wie eine solche nicht sein soll. Daran schließt sich ohne Pause die sozusagen typische Geschichte dieses sogenannten optischen Instrumentes. Vor etwa zehn Jahren hatten – so lautet sie – die Augen der Alten schon eine bedenkliche Schwäche gezeigt; doch griff sie natürlich nicht sogleich zur Brille, sondern berieth erst mehrere Jahre hindurch mit allerlei Bekanntinnen, wo man nur eine gute Brille kaufen könne? Die Meinungen waren aber darüber sehr getheilt: der Einkaufsstellen gab es ja sehr viele. Schließlich ging sie zu einem Spielwaarenhändler, erklärte ihm jedoch von vornherein, es komme ihr gar nicht auf’s Geld, sondern nur auf den Besitz einer guten Brille an. Man legte ihr dann eine ganze Sammlung vor, aus der die eine Sorte 40 Pfennig das Stück, die andere 50 Pfennig, eine dritte gar 1 Mark kosten sollte; das seien die besten, aussuchen müsse sie selbst die richtige Nummer. Zu diesem Zwecke legte man ihr ein Zeitungsblatt hin, womit sie ihre Proben anstellen solle. Dies geschah denn auch gewissenhaft mit allen Sorten, und es fand sich zuletzt wirklich unter den 50-Pfennig-Brillen zufällig eine, die merkwürdig gut paßte. Diese ward gekauft. Aber die Freude darüber hielt nicht lange an; denn gar bald that sie den Augen recht sehr wehe, und damit lesen konnte die Frau fast nicht mehr. Als sich das durch fortgesetzten Gebrauch nicht ändern wollte, ging die Alte zum Augenarzt. Die „anfangs so gute Brille“ ist nunmehr ganz verbogen, die Gläser stehen im Winkel zu einander, die Arme sind gewunden, wie wenn sie vom Blitze getroffen worden wären, und stehen weit aus einander, sodaß sie nur mit Hülfe eines Bandes noch hinter dem Ohre halten. Und erst die Gläser! Die Farbe derselben schillert zwischen Glas- und Meergrün, sie sind mit Putzstriemen bedeckt und ganz beschmutzt; außerdem ist das Glas voller kleiner Luftblasen im Inneren und von beiderseits gleichgewölbten Flächen kann keine Rede sein. Das war so eine Brille mit gegossenen Gläsern, wie sie tausendfach benutzt werden: billig sind sie und schlecht in des Wortes tiefster Bedeutung.
„Diese Brille war niemals auch nur halbwegs brauchbar!“ so lautet der Spruch des Arztes.
„Was soll ich thun?“ die Frage der Alten.
„Ich will Ihnen eine richtige bestimmen und aufschreiben; doch kann dieselbe 3 bis 4 Mark kosten!“
Da sollte man nun das entsetzte Emporschnellen des Frauchens gesehen haben.
„Gott soll mich behüten! – Was bin ich Ihnen schuldig, Herr Doctor?“
In gute Laune versetzt ob dieses drastischen Schlusses der Konsultation anwortet dieser mit:
„Nichts!“
„Dann bedanke ich mich schön für den freundschaftlichen Rath!“
Und das Mütterchen ging und – kaufte sich ganz gewiss jetzt eine neue Brille – für 40 Pfennig, damit der Verlust, wenn auch diese etwa nicht gut ausfallen sollte, nicht so groß sei. Und die Augen wurden weiter verdorben!
Billig und schlecht! ein solcher Brillenkauf schließt die häufigste Brillensünde ein, welche von Alterssichtigen begangen wird. Zum Augenarzte geht heute noch nicht ein Procent derselben: wer auch darf sich denn diesen Luxus einer Altersbrille, und das heißt doch nichts anderes, als seiner Augen wegen erlauben?! Davon wollen wir aber hier gar nicht reden.
Ein weiterer Fehler, der nicht selten beim Gebrauch von Altersbrillen begangen wird, ist der, daß für kleine und größere Entfernungen beim Arbeiten ein und dieselbe Brille benutzt wird, während für nahe Gegenstände doch eine stärkere und für entferntere eine schwächere nöthig ist. So ist z. B. eine Brille, welche zum Lesen in einem Buche ganz passend ist, unbrauchbar, sobald etwa ein Kaufmann sie zum Ueberschreiben aus einem entfernter liegenden Tagebuch in’s näher liegende Hauptbuch benutzen will. Für diese letztere Arbeit muß er eine besondere, schwächere Brille haben, als zum Lesen. Ebenso ist es bei vielen anderen Beschäftigungen, bei denen abwechselnd feinere und gröbere Gegenstände scharf gesehen werden sollen. Für solche Fälle müssen eben verschiedene Gläser ausgewählt und in Gebrauch gezogen werden – wer aber will sich gar noch zwei Brillen anschaffen? Andere minder bedenkliche Versündigungen beim Gebrauche von Altersbrillen müssen wir unerörtert lassen.
Aber auch Fernsichtige, die gleichfalls Convexgläser nöthig haben, fehlen häufig genug gegen ihr Sehorgan. Warum dieselben Vergrößerungsbrillen benutzen müssen und wie solche bei ihnen wirken, zeigt Fig. 7 ganz deutlich.
Die Fernsichtigkeit ist, wenn auch nur selten Brillen gegen dieselbe angewendet werden, häufiger, als es den Anschein hat. Vor allem ist sie bei nach innen schielenden Kindern fast ausnahmslos vorhanden und sogar die Ursache des Schielens, welches deshalb auch durch richtigen Brillengebrauch häufig wieder beseitigt werden kann. Leider ist das den wenigsten Eltern bekannt, folglich auch nicht, daß bei beginnendem Schulbesuch gerade erhöhte Gefahr eintritt, daß es, wenn nicht jetzt zur Brille gegriffen wird, zum bleibenden Schielen kommt, wobei das abgelenkte Auge fast immer schwachsichtig wird: selbst eine Schieloperation kann dann gewöhnlich nur noch die Entstellung beseitigen, nicht aber das geschwächte Sehvermögen.
Kein Augenfehler tritt unter so verschiedenen Erscheinungen auf, wie die Fernsichtigkeit; sie ist ein wahrer Proteus. Selbst das Bild angeborner höchster Kurzsichtigkeit täuscht sie nicht selten vor. Bei stärksten Graden nämlich sehen die damit Behafteten in die Ferne so wenig, wie sehr stark Kurzsichtige; aber auch in die Nähe sehen sie nicht, was doch bei letzteren der Fall ist, besonders können sie nicht, wie diese, sehr feine Schrift lesen. Und
gerade das erregt beim Kundigen den Verdacht auf versteckte
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 323. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_323.jpg&oldid=- (Version vom 16.5.2023)