Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Diese zu lang gebauten Augen nennt man aber nicht etwa langsichtige, sondern, wie bekannt, kurzsichtige, weil sie nur auf kurze Entfernungen gut sehen. Der lange Bau des Auges ist nun entweder angeboren, oder er wird erst in den frühen Lebensjahren erworben, besonders durch tägliches und anhaltendes Sehen auf nahe Gegenstände, wodurch im Laufe der Zeit die hintere Augenwand (bei c) sich ausbuchtet. Darnach unterscheidet man zwischen angeborener Kurzsichtigkeit, die verhältnißmäßig selten ist, und erworbener, welche dafür um so häufiger vorkommt. Und dies ist neuerdings schon nicht mehr blos bei Nahe-Arbeitern – Studirenden, Kupferstechern, Uhrmachern etc. – der Fall, sondern sogar unter der ländlichen Jugend, bei der man früher wenig oder gar nichts davon wahrnahm.
Ferner giebt es Augen, die zu kurz sind.
Spricht man gerade diesen Satz aus, so folgt in der Regel sofort die verwunderte Frage: „Die zu kurz sind? Das soll wohl so viel heißen, wie: die zu klein sind?“ Nein! das soll es nun gerade nicht bedeuten! Denn ob ein Auge groß oder klein erscheint, das hängt in fast allen Fällen nicht von der Länge, ja nicht einmal von der Größe des Augapfels, sondern von der Weite oder Länge der Lidspalte ab: Augen mit langen Lidspalten nennt man große, solche mit kurzen kleine.
Es giebt aber gar nicht wenige Augen, die in der That zu kurz sind. Freilich, von außen her sieht man dies nicht und kann ihnen das nicht ansehen. Erst wenn der Durchmesser derselben, nachdem man sie aus den Augenhöhlen herausgenommen hat, mit dem Cirkel von vorn nach hinten gemessen wird, stellt sich heraus, daß ihre Achse, mit dem mittleren Auge verglichen, zu kurz ist (vergl. die Fig. 1 und Fig. 3).
Dieser Baufehler ist stets angeboren, wird nicht erworben. Auch ist die Linse solcher Augen (Fig. 3) meist nur flach gewölbt und bricht deshalb die Strahlen nur so schwach, daß sie sich erst hinter dem Auge (Fig. 3 bei b) zum Bilde der Außendinge vereinigen. Dadurch kommt, wie bei Kurzsichtigen (aber aus dem entgegengesetzten Grunde), auch bei solchen Fernsichtigen – so nennt man die Kurzäugigen in Anbetracht ihres Sehvermögens, welches nur deutliches Sehen in die Ferne zuläßt – ein verschwommenes Bild (Fig. 3 bei c) auf dem Hintergrunde des Auges zu Stande.
Bei den bisherigen Auseinandersetzungen handelte es sich um Dinge, die im Grunde auch an richtig nachgebildeten Glasaugen dieselben bleiben würden, da der Gang der Lichtstrahlen und die Entstehung der Abbilder äußerer Gegenstände auch in einem solchen gezeigt werden können. Anders verhält es sich dagegen mit der zweiten Hauptbedingung richtigen Sehens, bei der lediglich eine lebendige Kraft in Betracht kommt.
Bevor der Photograph die Silberplatte dem Lichte aussetzt, betrachtet er bekanntlich zuerst die an der hinteren Wand seines Apparates (Camera obscura) angebrachte matte Glasplatte, auf der sich das Bild des zu Photographirenden scharf abzeichnen muß, soll dasselbe in Wirklichkeit gut werden. Fast immer muß er aber, um dies zu erreichen, weil die optischen Gläser, welche dem Aufzunehmenden zugewandt sind, nur ausnahmsweise richtig stehen, durch Hin- und Herschrauben sie erst genau einstellen: er paßt seinen Apparat dabei der jedesmaligen Stellung der Person an, bis jenes scharfe Bild sich gerade auf der Platte zeigt. Ganz ebenso muß auch unser Auge bei jedem neuen Gegenstande sich einstellen. Wir haben zu diesem Zwecke innerhalb desselben aber einen viel vollkommeneren Einstellungsmechanismus, als jene Schrauben es sind, durch den die Gestalt der Krystalllinse geändert werden kann.
Diese ist ja weich, zusammendrückbar: wird sie durch einen im Auge vorhandenen, sie umfassenden ringförmigen Muskel zusammengedrückt, so wird sie stärker gewölbt und damit stärker brechend (Fig. 5, 2) im Vergleich zu dem Zustande, in dem sie bei Unthätigkeit jenes Muskels sich befand (Fig. 5, 1). Dies deutlicher zu machen diene folgende Betrachtung.
Man umfasse mit Daumen und Zeigefinger den Rand einer linsenförmig gebildeten Kautschukplatte der Art, wie dies in Fig. 4 abgebildet ist. Drückt man mit den Fingern diese Platte zusammen, so wird sie dicker (Fig. 4, 2), läßt man mit dem Druck nach, so wird sie dünner (Fig. 4, 1). Ganz dasselbe bewirkt jener sogenannte Anpassungsmuskel des Auges an der weichen, durchsichtigen Augenlinse.
Die Linse unseres Auges wird nämlich vom Rande her zusammengedrückt oder, was dasselbe sagt, dicker und stärker brechend, wenn wir nahe Gegenstände betrachten; der Druck läßt nach, und die Linse wird flach, schwächer brechend, wenn wir entferntere Dinge sehen wollen. Dies geschieht ganz unwillkürlich.
Diese Fähigkeit des Auges, die Brechkraft unserer Linse der jedesmaligen Entfernung der Gegenstände anzupassen, damit sie immer scharf von uns gesehen werden, nennt man Accommodation des Auges, zu deutsch, was freilich nicht so gelehrt kingt, Anpassungsfähigkeit oder Anpassungskraft des Auges.
Vollständig gute und rasche Wirksamkeit dieser ist, neben richtigem Augenbau, die erwähnte zweite Hauptbedingung scharfen Sehens.
Mit dem zunehmenden Alter wird nun, wie dies bekanntlich auch bei allen übrigen Körpermuskeln der Fall ist, der Anpassungsmuskel des Auges stufenweise schwächer. Er kann deshalb mit der Zeit die unterdessen auch starrer gewordene Linse nicht mehr so zusammendrücken, wie es nöthig ist, um nahe Gegenstände zu sehen. In Folge solcher Altersschwäche des Accommodationsmuskels, die sich etwa um das vierzigste bis fünfundvierzigste Jahr selbst bei sonst ganz gesunden Augen störend geltend macht, sehen bekanntlich ältere Personen, die nicht kurzsichtig sind, nahe Gegenstände nicht mehr scharf. Diesen aus der nachlassenden Kraft des Auges entstehenden Gesichtsfehler nennt man aber Weit- oder Alterssichtigkeit. Sie ist die verbreitetste und schon im Mittelalter und zwar zuerst mittelst Brillen bekämpfte Augenschwäche.
Jedermann weiß, daß man diesen Ausfall von Augenkraft im Alter durch eine Vergrößerungs- oder Convexbrille (Fig. 6) ersetzen kann; ist ein für die Altersstufe des Betroffenen richtiges Glas bestimmt, so kann derselbe wieder in der Nähe sowohl bei künstlichem Lichte, was ohne dasselbe fast unmöglich war, wie bei natürlichem Tageslicht ohne Beschwerden und Schaden lesen und ausdauernd arbeiten.
So kann es sein, aber so ist es nicht immer! Werden doch gerade bei Alterssichtigkeit die häufigsten und unglaublichsten Fehler, wahrhaftige Brillensünden begangen! Dies sowohl in der Art, daß zu spät zur Brille gegriffen wird, oder daß zu schwache oder zu starke wie auch daß zu schlechte Brillen getragen werden. Die letztgenannte ist die alltäglichste dieser Sünden.
Brillen werden zu spät benutzt! Bei Männern geschieht dies entweder aus Bequemlichkeit oder aus Leichtsinn, bei Frauen meist in Folge der Sucht, jung zu scheinen, dann bei beiden
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 322. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_322.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)