Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Die Eisjungfrau war prompt, im Bösen wie im Guten, das mußte man ihr lassen. Kaum waren jene Worte ausgesprochen, so ertönte lustiges Schellengeklingel in ziemlicher Nähe. Wäre Freising nicht so angelegentlich beschäftigt gewesen, seine eigene Todesanzeige zu stilisiren, so würde er es wohl schon früher vernommen haben, jetzt sah er gleichzeitig einen Schlitten um die Windung des Weges biegen, der nach wenigen Minuten die Unglücksstätte erreichte.
Der alte Kutscher, der das Pferd lenkte, hatte den Mantelkragen in die Höhe geschlagen, die Dame aber, die in dem offenen Schlitten saß, schien sich das Wetter nicht anfechten zu lassen, denn sie blickte ganz heiter in das Flockengewimmel, das auch sie überschüttete. Plötzlich aber stieß sie einen Schrei der Ueberraschung aus und rief dem Kutscher zu, zu halten.
„Herr Justizrath! Was sitzen Sie denn hier auf der Landstraße in diesem Wetter?“
Der arme Rechtsgelehrte bot in der That einen merkwürdigen Anblick dar; Anselm hatte ihn sorgfältig in den Pelz gehüllt und ihm ebenso sorgfältig die Reisedecke über die Füße gebreitet, so saß er denn in anscheinender Gemüthlichkeit auf seinem Steine wie ein Naturschwärmer, obgleich er bereits vom Kopfe bis zu den Füßen mit einer weißen Decke überzogen war.
„Fräulein Hofer!“ rief er. „Gott sei Dank, daß ich wieder ein Menschenantlitz erblicke! Ich glaubte ganz verlassen sterben zu müssen.“
„Aber was ist denn geschehen? So stehen Sie doch wenigstens auf.“
„Ich kann nicht, ich bin verhext!“
„Was sind Sie?“
„Verhext – das heißt, ich habe mir den Fuß verstaucht,“ verbesserte sich der Justizrath, der mit Schrecken inne wurde, daß er auch bereits dem Aberglauben verfallen war, und nun begann er sein Mißgeschick zu berichten, zu dem der zertrümmerte Schlitten eine traurige Illustration gab.
Fräulein Hofer, die sich noch zum Besuch bei ihren Eltern befand und soeben von einem kurzen Ausfluge nach der Försterei zurückkehrte, war inzwischen ausgestiegen. Sie ließ ihren alten Widersacher seine zahllosen Spöttereien nicht entgelten, sondern nahm sich in christlicher Barmherzigkeit seiner an. Sie bot ihm einen Platz in ihrem Schlitten an und verhieß ihn sicher nach der Försterei zu bringen, wo man ihm Fuhrwerk verschaffen werde.
„Nur noch eine Bitte!“ sagte der Justizrath wehmüthig, indem er sich mühsam erhob. „Unterstützen Sie mich ein wenig, damit ich bis zu jenem Abhange gelangen kann.“
Emma fand das Begehren etwas seltsam, zögerte aber nicht, es zu erfüllen, und mit ihrer Hülfe gelangte Freising, der kaum aufzutreten vermochte, auf die andere Seite der Straße, wo er sich auf einen der Chausseesteine stützte und in die Tiefe hinabblickte.
„Da unten liegen sie!“ sagte er in düsterem Grabestone.
„Um des Himmelswillen – Menschen?“ rief Fräulein Hofer entsetzt.
„Nein - Acten! Ich sehe ganz deutlich den blauen Umschlag des Paketes auf dem weißen Schnee.“
„Nun, dann lassen Sie sie in Gottes Namen liegen! Wir können uns in einer solchen Situation doch nicht mit Ihren langweiligen Acten abgeben.“
„Langweilig?“ rief der Justizrath empört. „Es sind die interessantesten, die merkwürdigsten Urkunden aus dem Archiv von Felseneck. Eine Grenzstreitigkeit von Anno sechszehnhundertundachtzig, die sich bis siebenzehnhundertzehn hingezogen hat; ein Erbschaftsproceß –“
„Auch von Anno sechszehnhundertachtzig?“
„Nein, vom Anfange dieses Jahrhunderts. Werdenfels contra Werdenfels – die jüngere Linie gegen die ältere – ein unglaublich interessanter Proceß, sogar eine Urkundenfälschung ist dabei vorgekommen! Und das alles liegt nun im Schnee begraben! In wenigen Stunden ist es völlig durchweicht, verdorben, verloren! Könnte Ihr Kutscher denn nicht versuchen, hinunterzusteigen? Ich wollte ihn überreich belohnen.“
„Nein,“ sagte das Fräulein mit Bestimmtheit. „Der alte Mann ist über die Siebenzig hinaus und wird nur noch zu den leichtesten Diensten verwendet. Liegt Ihnen denn wirklich so viel an diesen alten Räritäten?“
„Alles!“ erklärte Freising mit einem trostlosen Blick in die Tiefe.
„Nun gut, dann werde ich sie heraufholen.“
„Um Gotteswillen, Sie wollen doch nicht etwa – “
„Hinuntersteigen? Natürlich will ich das! Ich bin in den Bergen aufgewachsen und werde zur Noth wohl noch einen steilen Abhang hinunterklettern können. Wo liegt das Paket? Ah, dort unten!“
„Ich gebe es nicht zu,“ protestirte Freising. „Die Sache ist gefährlich, mein Anselm wollte sie nicht wagen – noch dazu heute am St. Rupertustage.“
Emma lachte laut auf.
„Wie, Herr Justizrath. sind Sie auf einmal gläubig geworden? Was kümmert denn den Freigeist der St. Rupertustag, der steht ja nur im Codex unseres Aberglaubens verzeichnet. Sein Sie ohne Sorge, ich stehe mit dem Heiligen auf sehr gutem Fuße, mich läßt er nicht stürzen,“ und ohne auf die weiteren Einwendungen zu hören, trat sie muthig den Weg in die Tiefe an.
Es war immerhin ein gefährlicher Weg, der einen schwindelfreien Blick und einen sicheren Fuß verlangte, aber Emma Hofer besaß beides. Zum Glück lag der Schnee an dieser Stelle nicht hoch und die Bäume und Baumwurzeln boten ihr Stützpunkte, die sie geschickt benutzte; nach einer kühnen Rutsch- und Kletterpartie gelangte sie glücklich zu dem verlorenen Schatze, der in ziemlicher Tiefe auf einem freien Vorsprunge lag, und belud sich ohne Zögern damit. Der Rückweg mit dem schweren Actenbündel gestaltete sich noch schwieriger, aber die tapfere kleine Dame brachte auch dies zu Stande. Sie kletterte ebenso muthig den steilen Abhang wieder hinauf und tauchte endlich erhitzt und athemlos am Rande der Chaussee auf.
„Da ist die Geschichte von Anno sechszehnhundertachtzig, sammt der Urkundenfälschung!“ rief sie triumphirend, indem sie das Paket auf die Straße schleuderte und dann vollends emporstieg.
Der Justizrah athmete auf. In die Angst, mit der er das Beginnen der kühnen Bergsteigerin verfolgte, mischte sich ein sehr angenehmes Gefühl, denn er sah in dieser Aufopferung die unleugbare Bestätigung dessen, was Lily ihm anvertraut hatte. Für einen Fremden, einen Gegner wagte man doch nicht dergleichen! Es war kein Zweifel, die Kleine hatte recht gesehen, und ganz erfüllt von diesem Gedanken streckte Freising der Emporsteigenden beide Hände entgegen und rief:
„Ich werde Ihnen ewig dankbar sein!“
Emma wehrte lachend die dargebotene Hülfe ab.
„Ich danke, Herr Justizrath, ich helfe mir schon allein. Denken Sie an Ihren verletzten Fuß, und was Ihre ewige Dankbarkeit betrifft, so ist die kleine Bergfahrt gar nicht so vieler Umstände werth.“
Freising war durchaus anderer Meinung. Er sah die verlorenen Acten – Werdenfels contra Werdenfels – vor sich liegen, er dachte daran, daß er noch vor einer Viertelstunde seinen Nekrolog verfaßt hatte und bereit gewesen war, mit fünf Körben in die Ewigkeit zu gehen – und seine sonst etwas trockenen und pedantischen Züge gewannen beinahe einen Ausdruck von Schwärmerei, als er sagte:
„Sie haben mir den Glauben an das Leben wiedergegeben!“
Fräulein Hofer, die diese Aeußerung natürlich auf die Acten bezog, fand das doch etwas übertrieben und schüttelte befremdet den Kopf.
„Herr Justizrath, Sie wissen, ich achte Sie hoch, aber Ihre Actenmanie –“
„Um Gotteswillen nur das nicht!“ unterbrach sie Freising, mit allen Zeichen des Entsetzens. „Alles auf der Welt, nur keine Hochachtung!“
„Aber Herr Justizrath –“
„Verzeihen Sie, mein Fräulein, aber das ist eine Eigenthümlichkeit von mir, ich – ich kann nun einmal keine Hochachtung vertragen – ich habe eine förmliche Aversion dagegen. Hassen Sie mich, wenn Sie wollen, aber achten Sie mich nicht hoch – ich habe das zu oft schon ausgehalten!“
Das Geständniß klang so verzweifelt, daß es die Idee erwecken konnte, bei dem Unfall sei nicht allein der Fuß, sondern auch der Kopf des Herrn Justizrathes zu Schaden gekommen.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 319. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_319.jpg&oldid=- (Version vom 3.1.2024)