Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1883) 292.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Compaßpflanzen.

„Schau’ dieses zarte Gewächs, was über die Wiese sein Haupt hebt
Gleich dem Magnete getreu die Blätter nach Norden gerichtet,
Compaßpflanze genannt, von Gottes Händen gepflanzet,
Um dem Wandrer den Weg durch die einsame Wüste zu zeigen,
Die sich öd’ wie die See und pfad- und grenzenlos ausdehnt.“

Longfellow, „Evangeline“.

In der Schule wurde uns gelehrt, daß man sich im Walde, wenn man irre gegangen sei, leicht orientiren könne, wenn man beachte, daß die Baumstämme stets auf der Südwestseite am stärksten mit Moosen und Flechten bewachsen seien. Dieser Wegweiser ist in der That ziemlich zuverlässig, wenn man dickere Stämme in nicht allzu dichten Beständen vor sich hat, denn dann zeigt sich die nach Westen gerichtete Seite, von welcher bei uns die feuchten Winde und Regenschauer des Frühjahrs und Herbstes kommen, wirklich am stärksten mit diesen Feuchtigkeit liebenden Gewächsen besetzt, während die trockenere Nordostseite gänzlich von denselben frei ist. In dichteren Beständen mit feuchtem Untergrunde läßt aber diese schon von Rousseau empfohlene Regel im Stiche. Natürlich gilt sie in obiger Form überhaupt nur für solche Länder, welche, wie der größte Theil Mitteleuropas, den West- und Südwestwinden ihre häufigsten Niederschläge verdanken.

Von einer in anderer Weise leitenden „Compaßpflanze“, welche dem Wanderer in den unendlichen baum- und pfadlosen Prairien Nordamerikas an trüben Tagen wie in sternlosen Nächten die Weltrichtung anzeige, wußten die Prairiejäger und Ansiedler seit langer Zeit zu erzählen, nannten das merkwürdige Gewächs Pol- oder Compaßpflanze (Polar Plant, Pilot Plant) und berichteten Wunderdinge von seiner Zuverlässigkeit. Aber die Botaniker und Nichtbotaniker schüttelten den Kopf dazu und hielten die Angabe, daß die Blätter dieser Pflanze stets unverrückt nach Norden zeigen sollten, für ein Märchen. Erst 1842, als General Alvord der amerikanischen Gesellschaft zur Beförderung der Naturwissenschaften auf ihrer Jahresversammlung zu Washington einen Bericht über die Pflanze vorlegte, vernahmen weitere Kreise Näheres über das sagenreiche Gewächs.

Es zeigte sich nun, daß diese aus den Prairien von Texas im Süden, bis nach Iowa im Norden und von Michigan im Osten bis nach Missouri und Arkansas im Westen verbreitete Pflanze eigentlich ein alter Bekannter war, denn schon im vorigen Jahrhundert (1781) hatte sie der Botaniker Thouin nach Europa gebracht, und man hatte sie ihrer stattlichen Erscheinung und ihres harzigen Geruches wegen, der ihr den Volksnamen „Terpentinpflanze“ und den wissenschaftlichen Namen der Silphiumpflanze (Silphium laciniatum) nach dem hochberühmten Silphium der Alten eintrug, in mehreren botanischen Gärten Europas gezogen, ohne zu ahnen, welches Mysterium dieser Pflanze außerdem noch innewohnt.

Compaßpflanzen.
A Die amerikanische Compaßpflanze (Silphium laciniatum) stark verkleinert.
B Eine deutsche Compaßpflanze (Lactuca Scariola) natürliche Größe.

Wenn Longfellow in seinen oben von uns nur theilweise angeführten Versen die Compaßpflanze ein „zartes Gewächs mit zerbrechlichem Stengel“ genannt hat, so beweist dies eben, daß er dieselbe niemals selbst in ihrer Kraft und Fülle gesehen, und den General Alvord, der ihn direct zu dieser Verherrlichung veranlaßt haben soll, falsch verstanden hat. Es ist vielmehr eine robuste, rauhbehaarte, über Manneshöhe erreichende Pflanze mit großen doppelt fiedertheiligen Blättern und ansehnlichen tiefgelben Blüthenköpfen, die nicht sehr viel kleiner sind, als die unserer bekannten Sonnenblume, kurz eine der vielen gelbblühenden Korbblumen oder Compositen der nordamerikanischen Prairien. Am meisten fällt in ihrer allgemeinen Erscheinung auf, daß die Blätter der Pflanze nicht wie gewöhnlich horizontal, sondern senkrecht wie die Hände oder Tafeln eines Wegweisers nach zwei entgegengesetzten Richtungen ausgebreitet stehen.

Machen wir uns diese eigenthümliche Erscheinung etwas klarer. Die meisten der im freien Felde wachsenden Pflanzen breiten bekanntlich ihre Blätter wagerecht aus, sodaß ihre Oberseite mit vollen Zügen das von oben herabstrahlende Licht trinken und mit ganzer Fläche auffangen kann. Darnach unterscheidet man bekanntlich eine Oberseite und eine Unterseite der Blätter, die schon äußerlich dadurch auffallen, daß ihre Oberseite gewöhnlich ebener und glänzender, meist auch tiefer grün gefärbt erscheint, als die Unterseite, während auf dieser die Adern und Nerven stärker hervortreten, wozu häufig eine stärkere Behaarung oder Filzbildung hinzutritt. Als typisch mag hier auf das oben dunkelgrüne, unten schneeweiße Blatt der Silberpappel verwiesen werden, welches den classischen Völkern deshalb als das Symbol der beiden Welten, der Ober- und der Unterwelt, oder sagen wir besser: der Licht- und Schattenwelt galt, denn die Blätter dieses Baumes richten sich nicht immer einfach mit der Oberseite nach oben, sondern vielmehr, wie wir bald sehen werden, senkrecht zum einfallenden Licht.

Mit dem Mikroskope kann man zwischen Ober- und Unterseite der Blätter noch einen andern lehrreichen Unterschied wahrnehmen, der darin besteht, daß die Unterseite kleine, von zwei bohnenförmigen Zellen begrenzte Oeffnungen in viel größerer Zahl aufweist, als die Oberseite. Diese sogenannten Spaltöffnungen vermitteln den Gasaustausch (Ernährung und Athmung) der Pflanze, sodaß also eine wirkliche Polarität und Arbeitstheilung zwischen Licht- und Schattenseite der Blätter ausgebildet ist; die eine läßt das Licht in ihren Zellen arbeiten, und die Nahrungsstoffe aus den luftförmigen Stoffen scheiden, welche die Unterseite durch ihre Spaltöffnungen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_292.jpg&oldid=- (Version vom 31.12.2023)