Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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mehr der haltlose „Träumer“, auf den Gregor so verächtlich herabsah, der mit krankhafter Scheu jede Berührung mit den Menschen floh. Es hatte einen eisernen Klang, dies „Ich will nicht weichen“, es gab Zeugniß davon, daß der Mann kämpfen und leben gelernt hatte.
Anna stand regungslos da, das Auge auf den Boden geheftet. Also war der Schritt umsonst, zu dem sie sich nach schwerem Kampfe entschlossen hatte. Raimund blieb und die Gefahr blieb, die ihn bedrohte. In der heißen Angst, die sie bei dem Gedanken überfluthete, gingen alle anderen Empfindungen unter. Sie hatte es ja erreicht, den Gebannten, Verfehmten in das Leben zurückzuführen, aber um welchen Preis!
Da wurde die Thür von Neuem geöffnet, und Paul Werdenfels erschien, aber er blieb auf der Schwelle stehen, und es lag eine ungewohnte Zurückhaltung und Fremdheit in der Art, wie er sich verneigte.
„Mein Onkel ist im Begriff, fortzufahren. Ich wollte mich Ihnen empfehlen, gnädige Frau.“
Anna sah auf, und plötzlich reifte ein Entschluß in ihrem Innern, sie gab dem jungen Manne ein Zeichen, einzutreten.
„Herr von Werdenfels, nur auf einige Minuten! Bitte, kommen Sie näher.“
Paul gehorchte, aber seine Augen hafteten forschend und unruhig auf den Zügen der jungen Frau; er sah es nun nur zu gut, wie bleich und erregt sie war.
„Ich war kürzlich ungesehen und unfreiwillig Zeuge Ihrer Unterredung mit dem Pfarrer Vilmut,“ begann sie. „Sie sprachen damals die Absicht aus, bei den jetzigen drohenden Verhältnissen in Werdenfels Ihrem Onkel zur Seite zu bleiben. Sie werden Wort halten, nicht wahr?“
„Gewiß, gnädige Frau. Zweifeln Sie nicht daran.“
Anna fühlte die Kälte in diesen Worten – trotzdem fuhr sie fort:
„Der Freiherr bedarf jetzt eines Freundes und vielleicht noch mehr eines Schützers. Er kennt die Gefahr, die ihn bedroht, in ihrem vollen Umfange, trotzdem will er Werdenfels nicht verlassen und denkt nicht einmal daran, die nöthigen Vorsichtsmaßregeln zu nehmen.“
„Hat er Ihnen das selbst gesagt?“ fragte Paul mit einer Bitterkeit, die er nicht zu unterdrücken vermochte. „Ich sah allerdings, daß eine Unterredung ohne Zeugen gewünscht wurde.“
„Herr von Werdenfels,“ die Stimme der jungen Frau klang in rührender Bitte, „Sie haben mich geliebt, Sie haben um meine Hand geworben, und wenn ich auch glaube, daß diese Liebe mehr in Ihrer Phantasie als in Ihrem Herzen wurzelt, so weiß ich doch, daß ich jetzt Schweres von Ihnen verlange. Aber als Sie so muthig und energisch meinem Vetter Vilmut gegenüberstanden, da habe ich erkannt, daß Sie mehr werth sind, als Andere, und das giebt mir den Muth zu meiner Bitte. Bleiben Sie an Raimund’s Seite, denn ich fürchte, man wird noch ärger auf ihn einstürmen, als bisher. Wachen Sie über ihn, schützen Sie ihn, so weit es in Ihrer Macht steht.“
Es entstand eine Pause.
Paul war sehr bleich geworden und schien keine Antwort zu finden, endlich fragte er:
„Sie haben meinen Onkel in früheren Zeiten gekannt?“
„Ja,“ sagte Anna leise.
„Und er hat Ihnen – nahe gestanden?“
„Ja!“
Die Lippen des jungen Mannes zuckten schmerzlich.
„Dann begreife ich die Zurückweisung, die mir zu Theil wurde.“
„Herr von Werdenfels –“
„O, das soll keine Bitterkeit sein. Ich habe Raimund in diesen letzten Monaten kennen gelernt und weiß, daß er mit all seiner Düsterheit und Verschlossenheit, mit all seinen Seltsamkeiten doch einen Zauber ausübt, über den ich nicht gebieten kann. Es liegt etwas in seiner Persönlichkeit, das wider Willen zwingt, und es muß unwiderstehlich gewesen sein, als er noch dem Leben und dem Glücke angehörte.“
Anna schüttelte leise das Haupt.
„Dem Glücke hat er nie angehört, auch damals nicht, als ich ihn kennen lernte, und das Leben, in das er jetzt zurückkehrt, zeigte sich ihm feindlich von allen Seiten. Paul, ich lege Raimund’s Schutz in Ihre Hände. Wenn Sie mich je geliebt haben – wachen Sie über ihn!“
„Ich werde es thun!“ entgegnete Paul fest. „Ich weiche nicht von seiner Seite, und so weit ich ihn schützen kann, wird er sicher sein!“
Anna streckte ihm die Hand entgegen.
„Ich danke Ihnen, danke Ihnen von ganzem Herzen!“
Es war ein Dank, der wirklich aus Herzensgrunde kam. Die Stimme, die dem jungen Manne immer so kalt, so ruhig erschienen war, bebte jetzt in weichen, rührenden Lauten. Er vernahm zum ersten Male diesen Ton tiefster Innigkeit, der – einem Andern galt, und wortlos beugte er sich über die dargereichte Hand und drückte seine Lippen darauf.
Wenn Paul auch bereits angefangen hatte, seine hoffnungslose Leidenschaft zu überwinden, in diesem Augenblicke empfand er doch voll und ganz, was er verlor, und der heiße, bittere Schmerz des Verlustes preßte ihm das Herz zusammen. Seine Augen schimmerten feucht, als er seine Jugendliebe begrub.
Wenige Minuten später fuhr der Schlitten fort, in dem sich der Freiherr und sein Neffe befanden, und einige Stunden später kehrte auch Frau von Hertenstein nach Hause zurück. In der Försterei ahnte Niemand, daß dies Zusammentreffen kein bloßer Zufall gewesen war.
Es war bereits gegen Abend, als die beiden Herren in Werdenfels anlangten. Sie hatten die Fahrt größtentheils schweigend zurückgelegt, Raimund schien seine ganze ehemalige Verschlossenheit wieder aufgenommen zu haben, und Paul seinerseits war froh, des Sprechens überhoben zu sein. Er empfand es als eine Erleichterung, daß der Freiherr sich unmittelbar nach der Ankunft in sein Zimmer zurückzog, denn die heutige Entdeckung hatte ihn doch tiefer getroffen, als er sich eingestehen wollte.
Als der junge Baron in sein Wohnzimmer trat, übergab ihm Arnold einen inzwischen angelangten Brief, indem er bedeutsam sagte:
„Aus Rosenberg!“
Paul erkannte Lily’s Handschrift auf dem Couvert und griff hastig danach. Er trat mit dem Briefe zur Lampe, öffnete ihn und begann zu lesen.
Es war die Antwort auf sein eigenes sehr ausführliches Schreiben, in welchem er der jungen Dame seine Reformpläne hinsichtlich Buchdorfs aus einander gesetzt hatte. Lily ging mit vollem Eifer darauf ein, und wenn sie auch bisweilen noch sehr naive Ansichten entwickelte, so war sie doch in der Hauptsache mit dem künftigen Reformator einig, daß dem Vetter Gregor energisch Opposition gemacht werden müsse.
Dabei war der Ton des Briefes so frisch, so herzlich und kindlich, daß Paul in seiner tiefen Verstimmung wirklich wie von einem hellen Sonnenstrahl berührt wurde. Er fühlte erst jetzt, wie hoch und fern Anna von jeher über ihm gestanden hatte, wie tief die Kluft zwischen ihnen war, die all seine Leidenschaft nicht ausfüllen konnte. Seit heute wußte er freilich, daß er nur das Wort des Zaubers nicht besessen hatte, der das schöne kalte Bild belebte. Ein Anderer hatte dies Wort lange vor ihm ausgesprochen, und diesem Anderen galt jener thränenumschleierte Blick, jener weiche, süße Ton aus dem stolzen Munde: bei der Erinnerung daran zuckte es noch immer bitter und schmerzlich in dem Herzen des jungen Mannes.
Aber gerade in dieser bitteren Enttäuschung trat das Bild seiner kleinen Trösterin um so deutlicher und lieblicher hervor. Er dachte an ihre herzliche Theilnahme bei seiner Liebe und seiner Werbung um ihre Schwester, an ihre rührende Angst um sein Leben, als sie das vermeintliche Mordgewehr aus seinen Händen nahm; mit ihr war er gleich in der ersten Stunde vertraut gewesen, wie fremd und eisig hatte Anna dagegen von jeher ihm und seiner Liebe gegenüber gestanden!
„Herr Paul, ich glaube, jetzt haben Sie den Brief sechsmal durchgelesen,“ bemerkte Arnold, der sich inzwischen im Zimmer zu thun gemacht hatte und äußerst ungehalten darüber war, daß man gar keine Notiz von ihm nahm. Paul schien sich in der That erst jetzt seiner Gegenwart zu erinnern.
„Du kannst gehen,“ sagte er, zerstreut aufblickend. „Ich brauche Dich heute Abend nicht mehr, laß mich allein!“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 287. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_287.jpg&oldid=- (Version vom 1.1.2024)