Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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No. 18. | 1883. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Gebannt und erlöst.
Paul fuhr zurück, er hätte alles Andere eher erwartet, als die junge Frau hier zu sehen, die wie eine plötzlich auftauchende Vision in dem Rahmen der Thür stand. Raimund dagegen zeigte keine besondere Ueberraschung bei diesem Zusammentreffen. Er verneigte sich und sagte mit kühler Höflichkeit:
„Ich bedaure, wenn wir stören, gnädige Frau.“
„Ich bin nur Gast hier,“ entgegnete Anna in demselben Tone, „aber ich höre, daß Sie eine Besichtigung des Hauses vornehmen, Herr von Werdenfels, und wollte bitten, dabei keine Rücksicht auf meine Anwesenheit zu nehmen. Das Zimmer, das ich bewohne, steht gleichfalls zur Verfügung.“
Sie trat etwas zurück, um den Eintritt frei zu lassen. Paul fand das Anerbieten sonderbar, und noch sonderbarer, daß es angenommen wurde. Was konnte denn an diesem Giebelzimmer liegen, wenn der Bau des neuen Forsthauses einmal beschlossene Sache war? Raimund schien indessen anderer Meinung zu sein, denn er trat ein, wandte sich aber auf der Schwelle zu seinen Begleitern.
„Die Wirthschaftsgebäude werden kaum in einem besseren Zustande sein,“ bemerkte er. „Willst Du die Besichtigung übernehmen, Paul? Hofer wird Dich führen, und ich verlasse mich darin ganz auf Dein Urtheil.“
Der junge Mann stutzte, und es wurde ein unbestimmter Argwohn in ihm rege. Seine Augen schweiften langsam von dem Freiherrn zu Frau von Hertenstein hinüber, aber er vermochte nichts in dem schönen ernsten Antlitz der jungen Frau zu lesen, und Raimund’s Züge blieben ihm vollends verschlossen.
„Wie Du wünschest,“ entgegnete er. „Du – willst inzwischen hier bleiben?“
„Ja,“ sagte Werdenfels kurz und bestimmt, indem er vollends eintrat.
Paul’s Blick flog mit einem seltsamen Ausdrucke zurück, während der Förster die Thür schloß, aber er schwieg. Erst als er mit seinem Begleiter am Fuße der Treppe angelangt war, blieb er plötzlich stehen und fragte hastig, aber mit gedämpfter Stimme:
„Seit wann ist Frau von Hertenstein bei Ihnen?“
„Seit gestern Abend,“ war die unbefangene Antwort des Försters. „Wir waren sehr erfreut, daß sie sich einmal entschlossen hat, meine Tochter zu begleiten und die Försterei zu besuchen.“
„So? Und wie lange denkt die Dame zu bleiben?“
„Sie will uns leider schon heute Nachmittag wieder verlassen, da sie nach Rosenberg zurück muß.“
„Das ist in der That ein kurzer Besuch; er lohnt ja kaum die weite Fahrt in dieser Winterszeit. – Frau von Hertenstein wußte natürlich nichts von der Absicht meines Onkels, heute die Försterei zu besichtigen?“
„Keine Silbe! Ich selbst habe ja erst gestern die Nachricht erhalten, und auch die gnädige Frau erfuhr es erst bei ihrer Ankunft. Sie würde sonst wohl einen anderen Tag gewählt haben.“
„Vermuthlich!“ sagte Paul kurz. „Lassen Sie uns jetzt gehen!“
Der Förster kam der Weisung nach, aber er konnte nicht umhin, sich zu wundern, daß der junge Baron plötzlich so schweigsam und zerstreut geworden war. Paul hörte gar nicht auf die Erklärungen und Auseinandersetzungen, die ihm gegeben wurden, er sah sich kaum um in den Wirthschaftsräumen und kürzte die Besichtigung so viel als möglich ab. Er schien große Eile damit zu haben.
Die beiden Zurückgebliebenen waren allein. Raimund stand der jungen Frau gegenüber, aber es lag eine kalte, ernste Zurückhaltung in seinem Wesen, als er fragte:
„Du hast mich gerufen, Anna?“
„Ja,“ erwiderte sie leise. „Ich mußte Dich sprechen. Du hast mein Billet erhalten?“
„Die drei Zeilen von Deiner Hand, die mir die Försterei zur Zusammenkunft bestimmten – ja.“
„Mir blieb kein anderer Ausweg. Du begreifst, daß ich Dich nicht nach Rosenberg rufen konnte.“
„Weshalb nicht? Weil Gregor Vilmut Dir diese Zusammenkunft verboten hätte?“
„Verboten? Glaubst Du, daß ich so vollständig von seinem Willen abhängig bin?“
„Ich glaube, daß er in allem, was mich betrifft, Deinen Willen vollständig in Fesseln geschlagen hat. Ich habe Proben davon.“
Anna schwieg, sie mochte die Wahrheit dieses Vorwurfes empfinden, aber ihre Augen ruhten fragend und erstaunt auf dem Freiherrn. Erst jetzt, wo er vor ihr stand, sah sie, wie tief und mächtig jene Veränderung war, die sie schon beim ersten Anblick entdeckt hatte.
Raimund’s Antlitz war noch bleich, und es lag noch der
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_285.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2023)