Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
|
Weltverkehrs gestellt hat und von denen man nicht weiß, ob man dem Reichthum und der Nutzbarkeit ihrer unabsehbaren Bodenflächen, oder der Schönheit, Merkwürdigkeit und Mannigfaltigkeit ihrer landschaftlichen Gestaltung die Palme zuerkennen soll. Das kingt ein wenig voll, aber es meint genau, was es sagt. Nur in wenigen Ländern der befahrenen Erde wird eine derartige Entscheidung dem Umschau Haltenden so schwer gemacht, wie in diesem neuesten Theil der Neuen Welt. Man hat nur vom Lake Superior aus seine Ostgrenze zu überschreiten, um sich auch gleich an der Schwelle dieses achtzehnhundert Meilen langen Landgürtels der ganzen Qual einer solchen Wahl preisgegeben zu sehen. Es ist der Staat Minnesota, der, selbst noch verhältnißmäßig neu, hier gewissermaßen den Vorhof des Neuen Nordwestens bildet.
Der Westfahrer aber durchfliegt dieses schöne, in seinem Reichthum an Wald, Hügeln, Seen, Feldern und Farmen einem ununterbrochenen Park gleichende Minnesota nur, um sich schon hundert Meilen jenseits des Mississippi, nach Ueberschreitung des Redriver, mit einem Schlage in das gerade landschaftliche Gegentheil versetzt zu sehen, in das jeder Romantik entbehrende, völlig nackte und flache Prairiengebiet Dacotahs!
Aber welcher Wandel hat sich im letzten Jahrzehnt in diesen Redriver-Regionen des nordöstlichen Dacotah vollzogen! Als ob ihre fußtiefen Ablagerungen schwarzen Humusbodens nur darauf gewartet hätten, ist hier unter der ersten Berührung des magischsten aller Zaubergeräthe, der Pflugschar, über endlosen Grassteppen ein Weizenland erwachsen, das schon heute von Dutzenden kleiner Ackerbaustädte und von Tausenden einzelner Farmen und Heimstätten bedeckt ist. Fargo am Redriver ist die Hauptstadt davon. Mit den zehntausend Einwohnern, welche es in diesem Augenblick zählen mag, erlaubt es sich bereits den Luxus einer beträchtlichen Anzahl steinerner Geschäftsgebäude, vier verschiedener Zeitungen und eines zweihundert Fuß hohen eisernen Beleuchtungsthurmes, von dessen Höhe eine elektrische Sonne allabendlich nicht nur die junge Weizencapitale, sondern auch die sie umgebenden ländlichen Weizendependenzen weithin erleuchtet. Im Uebrigen sieht der Ort wie ein großes Heerlager von Landagenturen und Niederlagen von Farmgeräthen und Ackerbaumaschinen aus, welch letztere Raummangels halber ihre Pflüge, Eggen, Sä-, Mäh- und Dreschapparate im Freien aufstapeln und so die Straßen in einen großen Agriculturbazar verwandeln.
Das Land um Fargo herum aber und auf hundert Meilen und mehr nach Westen hinaus muß man zur Erntezeit mit eigenen Augen gesehen haben, um das Recht zu begreifen, mit welchem die poetischen Zeitungsredacteure dieser jungen Ackerbaucommunitäten nur noch von ihrem „Goldenen Nordwesten“ sprechen. Ein einziges, unabsehbares, nur hier und da von einer Gerste- oder Haferwelle unterbrochenes Weizenmeer liegt es dann da, dieses neueste Weizenland der Erde. Im Augenblick bereits Tausende von Quadratmeilen bedeckend, brandet es mit jedem Sommer weiter nach Westen hinaus, hat es schon heute das eigentliche Redrivergebiet längst hinter sich gelassen, ist es eben im Begriff, das weitschichtige Hügelland zu überfluthen, welches unter dem wunderlichen Namen des „Cotaeus“ die Ufer des zweihundert Meilen weiter westlich fließenden und hier seinen großen nordsüdlichen Bogen beschreibenden Missouri einsäumt.
Die größten Farmbetriebe der Welt befinden sich in diesem Weizenlande Norddacotahs, so bei Fargo die berühmte Dalrymple-Farm, welche allsommerlich 25,000 Acres – nahezu ein und eine Viertel geographische Quadratmeile! – in einer geschlossenen Fläche unter Cultur hat. Daß hier die Maschine zur Großmacht wird, und daß sich Bodenbestellung, Aussaat und Ernte in Dimensionen und mit Hülfsmitteln vollziehen, von denen der europäische Ackerbau ebenso wenig etwas weiß, wie von den kaum nennenswerthen Preisen dieses Neulandes, bedarf keiner besonderen Ausführung.
Doch nicht nur in Mitten der bereits von der Pflugschar eroberten Districte entfaltet dieser Monstrebetrieb seine nützliche, wie seine schädliche Wirksamkeit. Er bildet auch den erfolgreichen Pionier nach Westen hin, welcher im Verein mit der neuen Eisenbahn die kleineren Farmen in hellen Haufen erst hinter sich herzieht. Und gerade in den Hügellandstrichen des oben genannten „Cotaeus“ sind es neuerdings die drei Riesengründungen der Steele-, der Clark- und der Troy-Farm, von denen keine unter 15,000 Acres umfaßt, welche den Beweis geliefert haben, daß die baumlose „rollende“ Prairie des Missouri sich ebenso gut, wie die nicht minder baumlose, aber dazu noch völlig flache und in dieser Flachheit nur um so mehr den winterlichen Eis- und Schneestürmen, welche hier unter dem Namen „Blizzards“ so sehr gefürchtet werden, ausgesetzte Prairie des Redriver, zu einem sommerlichen Weizenparadiese qualificiren.
Das Latein, welches dem Leser in dem Worte „Cotaeus“ entgegentritt, ist, wie der Weizen dieser Gegenden, von echtem Dacotaher Wachsthum. Es ist eine von den guten Leuten dieses Territoriums glücklich zu Stande gebrachte und noch glücklicher eingebürgerte Corruption des einst von den französisch-canadischen Missionären dieser Landerhebung beigelegten und von den amerikanischen Geographiebüchern beibehaltenen Namens: Coteau du plateau du Missouri. Diese „Hügelländereien des Plateau von Missouri“ und der von ihnen eingesäumte Strom bringen in landschaftlicher Beziehung eine wahrhaft erlösende Abwechslung in das ebene Einerlei, welches sich vom Redriver bis hierher hindehnt. Bismarck heißt die junge Stadt, bei welcher die Nord-Pacificbahn auf einer diesem Namen wohl entsprechenden eisernen Prachtbrücke den Missouri überschreitet. Dieser selbst aber ist eines solchen Brückenbaues wohl würdig. Trotz seines schmutzig verwahrlosten Gewässers bietet er hier bereits ein höchst stattliches Flußbild, wird er namentlich im Frühjahr, wenn die Rocky Mountains ihre Wassermassen zu Thale senden, zum gewaltigen Strom mit weitausgedehntem Ueberschwemmungsgebiet.
Aber wo bleibt dieses Fluß- und Hügelland-Intermezzo, mit dem der Missouri und seine Ufer eine so wohlthuende Abwechslung in die endlose Prairieneinförmigkeit Dacotahs bringen, neben der landschaftlichen Abnormität, welche – ein ganzes Landschafts-Drunterunddrüber – des um abermals hundert Meilen der sinkenden Sonne nachgeeilten Westfahrers in den ebenso viel genannten wie wenig gekannten „Bad lands“ des Little Missouri harrt? Nicht die geringste Absonderlichkeit an dieser selbst bis auf ihren Namen absonderlichen Region, zu deren Hervorbringung eine excentrische Naturlaune die widersprechendsten Naturkräfte vereinigt zu haben scheint, ist die Plötzlichkeit, mit der sie sich hier und von hier auf weite Strecken nach Norden und Süden hin fast quer über das ganze Unionsgebiet aufwirft. Am ausgesprochensten längs der Grenzlinie, welche Dacotah vom Territorium Montana trennt, erstrecken sich diese „Bad lands“ nach Wyoming hinunter, um in Colorado und Utah auf’s Neue hervorzutreten, bis sie in ihren südlichsten Ausläufern endlich in Neu-Mexico und Texas verschwinden. Soll man sie ein Gebirge nennen? Wenn man sich durch einen Zug der Nord-Pacificbahn kurz vor Ueberschreitung des Little Missouri-Flusses plötzlich und unvermittelt in ihr buntes Labyrinth von Höhen, Bergen, Schluchten, Thälern und Engpässen versetzt sieht, gewiß! Es sind wohl an tausend bis zwölfhundert und selbst noch mehr Fuß, zu welchen sich hier diese in allen nur denkbaren Formen aufstarrenden Erdbildungen über die davor gelagerten Ebenen erheben. Dazu in solchen Massen, in solcher Zusammengedrängtheit und in solchem Durcheinander, daß man sich wie mit einem Zauberschlage in eine längst entschwundene geologische Epoche zurückversetzt glaubt, da die Erde noch in ihren zuckenden Werde-Wehen lag und nicht das fertige, menschen-bewohnte Bild der Ordnung von heute war.
Als habe damals ein übermächtiger Wille ihrem chaotischen Kreißen jählings Einhalt gethan, so ist hier das Land mit einem erstarrten Chaos der abnormsten Formen bedeckt, in denen auch die ungeübteste Einbildungskraft allerlei phantastische Gestalten erblicken muß, und welche hier wie mit einer Art ingrimmigen Wohlgefallens an ungeheuerlich-primitiver Plastik auf die Breite von tagelangen Wanderungen unter einander gewürfelt erscheinen.
Auf die Breite von tagelangen Wanderungen! Ja, wer sich überhaupt nur unterfangen wollte, diese Wirrsale und Irrgärten von Riesenkegeln, Pyramiden, Zacken, Wällen, Thürmen, Haufen, Domen, Ruinen und Bastionen zu durchwandern, in deren gewundenen Schluchten und endlos verschlungenen Thaleinsenkungen ein üppiger Graswuchs wuchert, aus welchem – ein weiterer Zug der contrastirenden Bizarrerie, welche hier zu Hause ist – die mächtigen Knorren und Stümpfe versteinerter Bäume aufragen!
Nur ein unendlicher Ariadne-Faden, noch besser aber ein untrüglicher Pfadfinderinstinct können zu einem solchen Unternehmen in Stand setzen. Ohne das Eine oder das Andere harrt
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_263.jpg&oldid=- (Version vom 21.4.2023)