Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1883) 250.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Und nicht gar viel anders waren die Sitten der Gaststätten zur Zeit der „Entdeckung“ am Achensee. Aber in Bezug auf Fortschritt scheint der nördliche Nachbar den südlichen schier überholt zu haben. Es fährt ihm die Eisenbahn dort bis an das Ufer; er hat seine Tables d'hôte, und die Malerbuben sind längst vor eindringenden Commissionsräthen und Geheimräthen verschwunden.

Gleichwohl sind auch diese Gestade dem Wandel in Verkehr und Brauch nicht entgangen, der seit etwa dreißig Jahren die Alpen heimgesucht hat. Auch die Scholastica, vor Decennien die Fischer-Liesl dieses Ufers, hat den sogenannten „Anforderungen der Jetztzeit“ einige Zugeständnisse gemacht. Dann kommt gar noch der noble „Achenseehof“ – kurzum, Master Fortschritt würde vergnügt auf „menschenwürdige“ Zustände hinweisen. Doch giebt es auch noch uralte, gemüthliche Herbergen, wie z. B. den „Muchwirth“.

Auch die Gesellschaft hat sich in entsprechendem Maßstabe verändert. Früher sah man Maler, Studenten mit leichten Ränzchen, Münchener Bürger, die auf ihrem Feiertagsausflug ketzerisch aus der heimathlichen Verehrung des Gambrinus in die des Etschländischen Bacchus übersprangen, Sommerfrischler aus Innsbruck. Jetzt bemerkt man all diese kaum mehr unter der Menge Jener, die „weit her sind“. Wie angedeutet, ist der Achensee bereits eine Domäne der Novellisten gewordeu, und mehr als eine schriftstellernde Dame hat, auf der Durchreise begriffen, von der Veranda ihres Gasthofes aus hier, soweit die Gegend durch ihr Binocle zu überschauen war, Stoff zu einer „Geschichte aus den Bergen“ gesammelt. Eine andere wandelte wohl zu gleichem Zweck auf stilleren Pfaden, wie z. B an dem romantischen Achensee-Ufer hinter Rainer, das unser heutiges Initial darstellt, und prägte sich tief in’s Gedächtniß die „Vokstypen“ des Tiroler Landes.

Die Wahrheit zu gestehen, ist die Gegend Pertisau jener Theil des Strandes, welcher verhältnißmäßig am spätesten sich in den Geist des Jahrhunderts gefunden hat. Die Pertisau ist eine ebene grüne Flur am südwestlichen Gestade, eine Anschwemmung von Schotter, welchen die Bäche des Falzthurn- und Gernthales allmählich in den See vorgeschoben haben, der aber jetzt schön von Gras und Bäumen überwachsen ist.

Um dorthin zu gelangen, lassen sich die meisten Fremden, nachdem sie den steilen Aufstieg vom Innthal hinauf zurückgelegt haben und beim anmuthigen Wirthshause in der Buchau (nicht ohne sich durch ein Seidel „Rothen“ gestärkt zu haben, angelangt sind, auf einem Kahn überfahren. Das ist in etwa einer Viertelstunde geschehen.

Die Anderen, welche den viel längeren Fußweg um die Ausbuchtung herum vorziehen, gehen längs des Strandes hin, den des Nachmittags, wenn der „baierische“ Wind weht, blasiger Schaum bedeckt, angesichts der grünen und grauen Kegel, welche ihnen aus Falzthurn entgegen schauen, und bald gewinnen sie, gleich denen, welche in einem Kahne fahren, die Uebersicht über den ganzen See bis zu seinem Nordende hin. Die Pertisau nimmt sich schöner aus, wenn zwischen dem Beschauer und ihrem Ufer sich noch ein Stück See ausdehnt, als von ihrem eigenen Boden aus.

Die vornehmsten Insassen der Pertisau sind Forstleute, Jäger und Fischer. Ihr stattliches Gebäude ist das „Fürstenhaus“, Eigenthum des Klosters Fiecht. An diesen Strand knüpfen sich manche Erinnerungen fürstlichen Jägerlebens, aus den Tagen, in welchen allenthalben in den nördlichen Gebirgen des Landes die Hüfthörner schallten und die Herzöge von Tirol zu Sigmundslust und Sigmundsberg, zu Thurneck und Waidburg Hof hielten.

Die Urkunden haben Manches aus jener Zeit bewahrt. Darum rathe ich Jedem, der dort in sommerlichen Lüften Kühlung sucht, sich von Innsbruck des Herrn Sebastian Ruf's „Chronik des Achenthales“ kommen zu lassen. Der grüne Alpenboden wird, indem die Gestalten der Landesgeschichte sich auf ihm bewegen, an Reiz gewinnen.

Jetzt gehört das einstmalige „Fürstenhaus“ dem Kloster Fiecht, dessen fromme Insassen es zu einem Gasthause umgestaltet haben. Und zwar ist dieses das besuchteste am See geworden. Der Wein ist von wahrhaft clericaler Reinheit, die Aussicht eine der schönsten und die Preise ohne ein Spur von liberalem Fortschritt. Darum findet sich auch das „Fürstenhaus“ die meiste Zeit bis zum Dachboden angefüllt.

Unter den übrigen Gaststätten stehen der „Pfandler“ und der „Karl“ bei den Reisenden in gutem Ansehen. Nicht Wenige ziehen den Aufentalt dort vor, und auch aus dem „Fürstenhause“ pilgern die Gäste gern dorthin, um der geistlichen Atmosphäre oder dem Fastenspeisetisch zu entfliehen.

Dies zur Unterrichtung für Ankömmlinge. Sehr viel Anderes sieht er sofort selbst, beispielsweise, daß er sich in einer Umgebung befindet, deren erstes Lebenselement die Jagd ist. Hierher sollte man sich des guten Gerstäcker's „Gemsjagd in Tirol“ mitnehmen und alle Tage darin lesen. Hier hat dieses Buch seinen Boden. Es wäre auch als Führer zu benutzen auf die Reitwege und zu den Jagdhäusern hinauf, zu den Höhen, von welchen aus man in die Kare des Hochgebirges, in denen die Quellen der Isar zusammenrinnen, sowie auf das ferne Eis der Zillerthaler Gletscher schaut.

Einen Umstand, der manchen Fremdling zur Pertisau ziehen wird, will ich nicht verschweigen. Die Welt wird immer bequemer, und so sei es denn gesagt, daß man nirgends bequemer in’s Gebirge hinaufgeht, als zwischen Pertisau, Hinterriß, Vereinsalpe und Mittenwald. Die Jäger hören das nicht gern, die Touristen stören ihnen das Wild. Es mird aber doch nicht Jeder mit Hunden herumziehen, Steine ablassen oder Pistolen schießen. Wir leben ja in einem Zeitalter guter Sitte. Die Reviere des Herzogs von Coburg zählen einen Stand von mehr als achttausend Gemsen. Wer da auf einsamer Wanderung keine zu sehen bekommt, sieht nirgends eine.

Diese Reitwege, zum Zwecke der Jagd gebaut, erreichen den Gipfel in weit ausgreifenden Windungen. Man spürt kaum, daß man steigt. Verhält sich die Sache auch nicht so, wie der alte Postmeister von Walchensee seinen Gästen den Steig auf den Herzogstand schilderte, nämlich „anfangs wohl ein kleines Stückl lang a bißl steil, nacher aber fast schier abwärts“, so giebt es doch keinen Mann, der auf solchem Pfade den Weg zum Blumser-Joch, in die „Eng“ oder von Hinterriß in’s Karwändelthal anstrengend fände. Zugleich sei darauf hingewiesen, daß eben das letztgenannte Thal, sowie Hinterau und Gleirsch, die alle in die Scharnitz ausmünden, ebenso leicht zu begehen als unbekannt sind. Ich habe mir in meinem „Deutschen Alpenbuch“ (bei Flemming in Glogau erschienen) alle Mühe gegeben, unseren Reisenden das klar zu machen, und Bogen darüber geschrieben. Es scheint aber nichts genutzt zu haben. So sei es denn an dieser Stelle zum Nutzen derjenigen, die etwas Großes sehen wollen, wiederholt.

Die vielberufenen Ampezzaner Dolomite haben nichts, was an Schönheit über das oberste Karwändelthal hinausginge. Es wäre leicht, da einen Dithyrambus anzustimmen. Ich verschone den Leser damit und stelle zu seiner Verfügung einige Wörter, aus denen er sich das Bild alsdann zusammensetzen mag. Solche Wörter sind: Oede, Wasserfall, Wolke, Schneereste, Nebel, Adler, Felswand, Dolomitzacken.

Es giebt keinen Theil der Alpen, welcher weniger bekannt wäre, als die Quellenthäler der Isar. Man sieht auf der Landkarte keine Wirthshäuser. denkt aber weder an die chausseegleichen Reitwege noch an die Schönheiten eines Imbisses, den man sich mitträgt, etwa unter den Schatten der Ahorne oder nahe an einen sausenden Absturz. Die Linie Pertisau-Mittenwald (sei es über Karwändelthal oder über Verein) müßte wimmeln von Sommerreisenden, wenn den Leuten das Richtige gesagt würde. Dabei sind die beiden Endpunkte gleich gemüthlich, nicht minder aber auch Hinterriß, das in der Mitte liegt. Ueber Vorderriß soll der Fußgänger nicht gehen, das breite Isarthal möchte ihm langweilig vorkommen. Wer sich in Pertisau aufhält, versäume es auch nicht, über die Lamsen nach Schwaz oder über Haller Anger in’s Salzthal zu pilgern. Aus den hunderterlei Wörtern und Ziffern der Reisebücher, die auch meist ohne Schattirung malen, kennt man sich nicht leicht aus.

Das angeführte Verhältniß muß um so mehr in Verwunderung setzen, als sich den Sommer über so viele Leute in der Pertisau aufhalten. Aber weiter als Hinterriß kommen die wenigsten. Beim Karl-Wirth, wo meistens die Jäger einkehren, geht es mitunter zu, wie in der bekannten Erzählung von Jacobs „Der Mittag auf dem Königssee“.

Der gute Jacobs würde aber wohl, wenn er statt seiner Gewährsleute einen der Pertisauer Jäger oder etwa den Oberjäger Moderecker in Mittenwald gehabt hätte, andere Sachen zu

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_250.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2023)