verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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kommt eine freiwillige Anfrage von der Meyer’schen Hofbuchhandlung in Detmold, natürlich erhält sie das Manuscript umgehend – endlich! Nach langen, bangen Wochen hat der Glückliche das erste Exemplar des Buches in der Hand, da brennt die Druckerei ab, die ganze kaum fertig gewordene Auflage geht in Feuer auf, und es muß noch einmal gesetzt und gedruckt werden. Endlich! – der tückische Zufall hat ihm manchen Schelmenstreich gespielt, dem „Till Eulenspiegel redivivus. Ein Schelmenlied von Julius Wolff“, aber der neu erstandene Erzschelm deutscher Nation hat sie alle reichlich wett gemacht. Das Gedicht ist „Ferdinand Freiligrath in Liebe und Verehrung gewidmet“, er hat auf seine Entstehung nicht minderen Einfluß geübt, als auf die Lebensrichtung des Dichters, sei’s herzlich ihm gedankt! Was die Buchhändler gesündigt, die Kritiker überhasteten sich, es zu sühnen, jede Beurtheilung eine unbedingte Anerkennung, wenn nicht eine begeisterte Lobpreisung, die berufensten Stimmführer vereinten sich, dem Volke das Erscheinen eines bedeutenden, eines wahren und wirklichen Dichters zu verkündigen, und das Volk glaubte ihnen auf’s Wort – nämlich auf die Worte des Dichters hin, die schnell zu allen Ohren und in alle Herzen drangen. Wie wohllautend und leichtflüssig sind diese Verse, wie jugendfrisch und liebenswürdig der Humor, zuweilen übersprudelnd, niemals verletzend, und vor Allem echt deutsch Gefühl und Gesinnung. Dabei warmherzige, leichtblütige Auffassung des Lebens und aller Verhältnisse und als Grundstimmung wahre Freisinnigkeit, die sich doch nirgend als vordringliche Tendenz breit macht.
Vierzig Jahre alt war der am 16. September 1834 geborene Dichter, als sein erstes Werk ihn mit einem Schlage in die vordersten Reihen stellte. Voll jugendfrischer Begeisterung eilte er fortan von einem Erfolge zum andern. Wiederum war ein sagenhafter Schelm der Held seiner nächsten Dichtung. Wie er den Eulenspiegel aber in unsere Zeit herübergeholt hat, sucht er den „Rattenfänger von Hameln“ inmitten der seinigen auf und bringt uns den unheimlichen Zauberer und das düstere Mittelalter nicht minder nahe, als den lustigen Schalksnarren und die lichte Gegenwart.
„Doch nirgends giebt es im Archiv
Für Forscher was und Finder,
Als daß ein Pfeifer kam und rief
Die Ratten und die Kinder,“
und darum muß man die ganze Geschichte auf Treu’ und Glauben von Einem nehmen, „der schon in der Jugend selber Mäuse fing und Lieder machte“.
In einem alterthümlichen hochgiebeligen Erkerhause zu Quedlinburg ist Julius Wolff geboren, ein Urahn war Receptarius der gefürsteten Aebtissin von Cappel und Lemgo, ein späterer Vorfahr Kammerrath der letzten Aebtissin von Quedlinburg gewesen; die Mutter entstammte einer alten seßhaften Bürgerfamilie, die seit Jahrhunderten bereits das Tuchmachergewerbe in seiner Vaterstadt betrieben hatte. Vielseitige Ueberlieferungen lenkten frühzeitig den Blick des Knaben auf die Vergangenheit. Draußen vor den Thoren aber lag der Harz mit seinen schroffen Felsen, waldigen Abhängen, rauschenden Wassern und heimlichen Thälern, immer wieder lockte es ihn hinaus in die einsamste Wildniß, Alles sah, hörte und beobachtete er, was da fleugt und kreucht, ward ihm bekannt und lieb, und „fand er eine Feder liegen, bückt’ er sich und wußte gleich, aus wessen Flügel oder Schwanze sie gefallen“.
In seinem Kämmerlein wimmelte und krabbelte es von allerlei Waldgethier, in dem alten Hause voll Ecken und Winkeln trieben die Mäuse ein lustiges Spiel, und wagte sich einmal eine besonders kecke in die Wohnzimmer, schnell erhaschte sie der kundige Fänger mit geschickter Hand.
Den Mäusen nachstellend, fand er einst auf dem Boden eine alte sehr schlechte Ausgabe von Schiller’s Gedichten. Seitdem saß er tagelang auf den Bergen, in lauschigem Versteck lesend und träumend, eine unsichtbare Welt ging ihm plötzlich auf inmitten der sichtbaren Umgebung, und Stimmen wurden laut in seinem Innern, die nicht blos ein Wiederhall des bisher Gehörten waren. Er begann zu dichten, kleine schüchterne Versuche, meist nur bei besonderen Anlässen und Gelegenheiten. Allmählich wurde die Form gewandter, der Ausdruck klarer, der Drang mächtiger und bestimmter, namentlich als er im Kampfe mit dem äußeren Berufe sich geltend machte.
Der künftige Fabrikant mußte zunächst mehrere Jahre lang die nöthigen Fachkenntnisse sich aneignen, mußte spinnen, weben und walken. Im großen Maschinensaal, wo Alles durch einander wirbelte und surrte, fand der angehende Dichter noch die Spuren der Poesie, wenn auch andere, denn einst im heimischen Walde. Weit wurde ihm die Brust, als er in Berlin, den Natur- und sonstigen schönen Wissenschaften ergeben, ein flottes Studentenleben führte, aber das kaufmännische Comptoir schnürte sie ihm wieder zusammen, so eng, daß ihm die Lebenslust auszugehen drohte. Und dabei hatte er auf seinem dreibeinigen Drehsessel hartnäckige Belagerung und manchen Sturm auszuhalten von Verwandten und Freunden, die kein Mittel unversucht ließen, ihm das Dichten zu verleiden und auszutreiben, sodaß er schließlich der geliebten Kunst nur ganz heimlich oblag.
Wie klingt sie verlockend, des Rattenfängers Pfeife, dessen sagenhafte Gestalt die Naturgewalt der Poesie und Musik an dem unmittelbarsten und natürlichsten Empfängnißvermögen, dem der Thiere und Kinder versinnbildlicht; der Orpheus des heitern hellenischen Himmels in der fratzenhaften Verkleidung des abergläubigen Mittelalters!
Daß alle Mädchen an ihm hangen, versteht sich von selbst, aber auch die Männer widerstehen nur schwer dem gutgelaunten Sänger, der ob der unergründlichen Ursache solch verblüffender Wirkungen nothgedruugen ein Zauberer sein muß. Fast nicht minder zauberhaften Erfolg hat Wolff’s Dichtung gehabt, achtzehn wirkliche und starke Auflagen in sieben Jahren, das allein schon genügt. Wunderkräftig hat sie aber auch das alte halbvergessene Märchen wieder frisch und lebendig gemacht und mitten hinein in den Vordergrund der allgemeinen Schaulust und Unterhaltung gestellt.
Seit ihrem Erscheinen ist der Rattenfänger ein Stammgast der Theaterzettel und Anschlagesäulen, wimmeln alle Bretter und Planken von Ratten und Kindern. Victor Neßler’s melodienreiche Oper hat mit ihm die ersten Bühnen erobert, die Vorstadttheater haben seit langer Zeit keinen so wirksamen Cassenzauberer gehabt, und was er im Circus Renz und seinen Ablegern nicht singen und sagen kann, das drückt er dort durch allgemein verständliche Geberden pantomimisch aus. Ueberall erscheint er aber „frei bearbeitet nach Julius Wolff’s gleichnamiger Dichtung“. So nahe hat uns der Dichter den Helden gestellt, seine Geschichte so glaubhaft erzählt und den ganzen Stoff in so zwingende Form gebracht, daß jede Abweichung den Eindruck irrthümlicher Unwahrscheinlichkeit machen würde, und doch ist dieser Stoff bis auf einige ganz schattenhafte Umrisse das freie Eigenthum des Dichters.
Wolff hat die selbstgeschaffene Gestalt so lieb gewonnen, daß er sein neuestes Werk „Singuf. Rattenfängerlieder“ gewissermaßen als das ihre erscheinen läßt. Es sind die gesammelten Gedichte des „kecken, schlanken Spielmanns mit den heißen, dunklen Augen, mit dem abgeschnittenen Ohre“ – und sie schließen mit den Versen: „Nach Hameln!“ da, wo die früher erzählte Geschichte anfängt. Es ist ein deutlicher Beweis für Wolff’s dichterische Begabung, daß seine Vorzüge und Eigenarten im Lyrischen gipfeln, alle Töne, die er mit gleicher Sicherheit und Wirkung anzuschlagen weiß, im Liede am reinsten und vollsten ausklingen. Vom duftigsten wehmüthigen Liebes- bis zum ausgelassensten Trink- und Schelmenlied findet er überall den wahrsten und einfachsten, meist geradezu volksthümlichen Ausdruck. In seinen poetischen Erzählungen kommen häufige lyrische Unterbrechungen vor, die aber nirgend willkürlich und zufällig, sondern, wie Monologe im Drama, die Erläuterung und Begründung der Handlung in den handelnden Personen selbst sind.
Bewunderungswürdig ist Wolff’s Kunst, in der Lyrik zu charakterisiren und in diesen Liedern nicht blos die Menschen, sondern auch ihre Zeit zum anschaulichsten Verständniß zu bringen; historische Lyrik möchte man diese neue Form und Gattung nennen und ihre Pflege als ein besonderes Verdienst Julius Wolff’s in Rechnung stellen. Ein Verdienst, an welchem der Forscher und Gelehrte nicht minderen Antheil hat, als der Poet, hinter dessen glänzender Begabung freilich die mühsame und gewissenhafte Arbeit des ersteren bis zur Unerkennbarkeit verschwindet. Gott schenke uns der gelehrten Dichter recht viele, wolle aber vor dichtenden Gelehrten in Gnaden uns immer bewahren! So wirkt auch die Liedersammluug „Singuf“ wie ein geschichtliches Culturbild des Mittelalters und seiner fahrenden
verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1883, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_206.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2023)