Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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fangen wir nun erst an, die ungeheure Höhe unseres Standpunktes recht zu würdigen.
Da ertönt aus der Ferne dumpfes Rollen und Brausen; ein mächtig durch den Wald schallender Pfiff klärt uns über die Ursache desselben auf, und gleich darauf erscheint am Ausgange des Waldes eine Locomotive, die, schnell der Brücke sich nähernd, unter heftigem Keuchen und Schnauben einen langen Kohlenzug heranschleppt. Jetzt ist der Zug auf der Brücke. Das Geräusch des Rollens nimmt, immer stärker werdend, eine tiefere Resonanz an. Vorüber schnaubt das Ungethüm, während der Boden unter uns dröhnt und doch kaum merklich zittert. In wenigen Minuten ist der lange Zug an uns vorüber gebraust und drüben auf der entgegengesetzten Hügelseite im Walde wieder verschwunden. Unser Gefährte, der mit Eisenconstructionen weniger vertraut ist, als wir, und dem als unfreiwilligem Zeugen bei dieser improvisirten Festigkeitsprobe nicht ganz wohl zu Muthe geworden, erholt sich jetzt von seinem Schreck, und mit einem bedeutsamen Lächeln nickt er uns zu, womit er sein nunmehr unbegrenztes Vertrauen in die Tragfähigkeit an den Tag legen will.
Folgen wir nun dem Beispiele der Pseudo-Pygmäen, indem wir dem Thale einen Besuch abstatten. Es ist dies kein allzuleichtes Unternehmen, denn die Thalseiten fallen ziemlich steil ab, und das Princip der gleichförmig beschleunigten Bewegung sucht sich beim Hinabsteigen geltend zu machen. Die Eisenbahngesellschaft beabsichtigt binnen Kurzem zur Bequemlichkeit der Touristen einen zickzackförmigen Pfad anzulegen, sowie auch im Thale selbst ein Hôtel zu bauen, denn schon jetzt besuchen wöchentlich Tausende den „Jumbo-Viaduct“ (so hat der Volksmund nach dem durch Barnum dem Londoner zoologischen Garten entführten Riesenelephanten die höchste Brücke der Welt getauft), und Extrazüge von den nahen Großstädten, sogar von Buffalo und New-York, sind schon längst zur Regel geworden.
Endlich sind wir wohlbehalten unten angekommen. Am Rande des Flüßchens stehend, blicken wir empor. Fürwahr, es verlohnte sich der Mühe, den steilen Hügel herabzuklettern, denn der Eindruck ist unbeschreiblich großartig.
Schier in den Himmel hinauf, so dünkt es uns, ragen die schlanken, eisernen Säulen. Wie Stangen sehen sie aus, diese Säulen, wie Spinnengewebe die starken Diagonalstangen der Verstrebung, wie Filigranarbeit die Linien der schweren Gitterträger, deren Gewicht nach vielen Tonnen gerechnet wird. Erst wenn wir näher herantreten und uns von den Vertrauen einflößenden Proportionen der unteren Constructionstheile überzeugen, verschwinden die Zweifel hinsichtlich der Tragfähigkeit, die momentan in uns aufgestiegen waren.
Während wir uns auf einem Baumstumpf niederlassen, um uns von den Strapazen unseres Abstieges ein wenig auszuruhen, und während unsere Blicke unwillkürlich immer wieder nach der Himmelsbrücke hinaufwandern, erzählen wir unserem Gefährten auf dessen Wunsch, wie auch dem Leser, Folgendes über den Mann, dem die Ehre gebührt, der Schöpfer dieses Wunderbaues genannt zu werden.
Ein Deutscher ist’s, Adolf Bonzano, der schon vor mehr als dreißig Jahren als junger Bursche aus Württemberg nach den Vereinigten Staaten auswanderte, wo er sich erst dem Maschinenfache, später aber dem Brückenbau widmete, in welchem er sich den hohen Ruf erworben, den er jetzt genießt als Ober-Ingenieur und Theilhaber des berühmten Brückenbau-Etablissements von Clarke, Reeves und Comp. zu Phönixville bei Philadelphia. Viele der großartigen amerikanischen Brücken, sowie der größere Theil der New-Yorker Hochbahnen, sind nach seinen Entwürfen aus diesem Etablissement hervorgegangen. So war es auch sein Entwurf, der von den mit Prüfung der eingesandten Pläne für den Kinzua-Viaduct betrauten Ingenieuren der Eriebahn für den besten und praktischsten erklärt wurde, worauf die Direction der Gesellschaft seinem Hause die Ausführung des Baues übertrug.
Am 15. December 1881 wurde die Ausführung der Detailarbeiten, Berechnungen und Zeichnungen von den Ingenieuren des Etablissements in Angriff genommen, wenige Tage darauf schon die erste Partie Eisen dafür gewalzt, und am 20. April 1882 ging die erste Sendung des fertigen Materials von Phönixville nach der Baustelle ab. Am 10. Mai wurde die Aufstellung des Eisenwerkes auf den mittlerweile vollendeten Steinpfeilern begonnen und am 1. September war der Viaduct fertig für den Eisenbahnbetrieb, also in kaum mehr als 3½ Monaten seit Beginn der Aufsteilung und in 8½ Monaten seit Beginn der Bureau-Arbeiten.
Bemerkenswerth ist noch, daß zur Aufstellung durchaus kein Gerüste, nicht einmal eine Leiter benutzt worden ist, denn da die Thürme etagenweise aufgestellt wurden, so dienten die unteren Etagen als Gerüste für die darauf liegenden Etagen. Die Constructionstheile wurden durch einfache Hebe-Apparate, aus Masten bestehend, die an die Säulen der bereits vollendeten Etagen angeschraubt
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_196.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2023)