Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Thal erreichte. Der Wind, der den ganzen Tag über geweht hatte, war nun in der That zum Sturme geworden, er brach jetzt mit voller Heftigkeit los und scheuchte Alles, was sich noch im Freien befand, unter irgend ein schützendes Obdach. Auch der Kutscher trieb die Pferde zu schnellerem Laufe an, um sobald wie möglich das Schloß zu erreichen, und nahm den nächsten Weg, der durch das Dorf führte.
„Ich werde dem Kutscher zurufen, über den Schloßberg zu fahren,“ sagte Paul, der sich der Warnung des Freiherrn erinnerte, sich nicht im Dorfe zu zeigen, aber Raimund legte verbietend die Hand auf seinen Arm.
„Laß ihn! Ich habe ihm befohlen, durch das Dorf zu fahren.“
Der junge Mann wußte nicht, was er denken sollte, der Onkel war ihm heute ganz und gar unbegreiflich.
„So laß wenigstens das Verdeck schließen,“ bat er. „Der Sturm reißt uns ja fast Hut und Mantel fort, und Du vollends erträgst eine solche Witterung nicht im Freien.“
Raimund schien in der That unter der Witterung zu leiden, an die er so gar nicht gewöhnt war; denn er hüllte sich fröstelnd in seinen Pelzmantel, aber seine Stimme klang in voller Bestimmtheit, als er antwortete:
„Nein, das Verdeck bleibt offen! Wir sind ja bald im Schlosse.“
Er lehnte sich in den Sitz zurück, war aber in der offenen Halbchaise Jedermann sichtbar. Er sah aber weder rechts noch links, sondern gerade vor sich hin, und seine Lippen waren zusammen gepreßt, als sei diese Fahrt eine Tortur für ihn.
Der Wagen rollte in das Dorf, wie gejagt vom Sturme, der Schnee stäubte unter den Hufen der Rosse, und das Ganze flog wie eine Vision vorüber. An den Fenstern der Häuser erschien hier und da ein neugieriges Gesicht, das erschrocken zurückfuhr, und dann drängten sich drei, vier andere hervor, die dem Wagen nachstarrten, obwohl er längst verschwunden war. Dann öffneten sich die Thüren und man lief trotz des Sturmes zu dem Nachbar, um zu fragen und zu hören, ob es denn keine Täuschung gewesen sei, ob es denn wirklich der Herr von Schloß Werdenfels war, der da mitten durch das Dorf fuhr.
Bei den letzten Häusern überholte der Wagen einen alten Mann, der gleichfalls irgend einem Obdache zustrebte, aber nur langsam vorwärts kam, weil er lahm war. Paul erkannte sofort jenen Bauer wieder, den er damals auf dem Wege nach der Försterei getroffen hatte. Der Alte war im Begriffe, dem Gefährte auszuweichen, als er auf einmal mitten im Wege stehen blieb; seine Augen richteten sich auf den Freiherrn, starr und schreckensvoll, als sehe er ein Gespenst vor sich. Dabei stand er wie an den Boden gewachsen und wich und wankte nicht, obgleich die Pferde immer näher kamen. Der Kutscher mußte sie zur Seite reißen, um ein Unglück zu verhüten.
Raimund, durch diese Bewegung aufmerksam gemacht, blickte gleichfalls dorthin. Seine Augen und die des Bauern begegneten sich nur einen Moment lang, dann lag schon wieder eine Entfernung zwischen ihnen, aber die erste Begegnung in der Welt, die er so lange geflohen, mußte wohl eine unheilvolle für den Freiherrn gewesen sein, Paul sah es, wie er zusammenzuckte und mit einer krampfhaften Bewegung den Mantel zusammenzog. Er sprach kein Wort, aber er athmete erleichtert auf, als der Wagen jetzt das Dorf hinter sich ließ und in die Allee des Schloßberges einbog.
Im Pfarrhause hatte man nichts von der Ankunft des Gutsherrn bemerkt; denn das Studirzimmer Vilmut’s lag nach dem Garten hinaus. Es war ein großes niedriges Gemach, dessen Ausstattung die höchste Einfachheit zeigte. An den weiß getünchten Wänden standen Bücherschränke mit ziemlich reichem Inhalte, aber sie enthielten nur Bücher geistlicher Art, und den alten dunklen Möbeln sah man es an, daß sie schon lange Jahre ihren Dienst gethan hatten. Ueber dem alterthümlichen Schreibtische hing ein großes, kostbar in Elfenbein geschnitztes Crucifix, ein wirkliches Kunstwerk von hohem Werthe. Es war ein Geschenk des Präsidenten Hertenstein an den Verwandten seiner Frau, als dieser die Ehe eingesegnet hatte. Das war aber auch der einzige Schmuck der Wände wie des Zimmers überhaupt. Alles, was den Anschein von Annehmlichkeit oder auch nur Bequemlichkeit erwecken konnte, war streng vermieden. Die puritanische Strenge und Einfachheit des Bewohners spiegelte sich in dieser Umgebung wieder, das ganze Pfarrhaus war in dieser Art eingerichtet.
In dem Lehnstuhle am Fenster saß Anna von Hertenstein. Sie war in der Stadt gewesen und hatte, da sie auf der Rückfahrt Werdenfels passiren mußte, im Pfarrhause angehalten. Gegenwärtig aber war sie eine schweigende Zuhörerin bei dem Gespräche, das im Studirzimmer stattfand.
Vilmut saß an seinem Schreibtische und vor ihm standen zwei Bauern, denen er augenscheinlich eine Strafrede gehalten hatte; denn der Eine sah ganz zerknirscht aus, während der Andere noch etwas finster und trotzig zu Boden blickte, Beide aber schwiegen und hörten respectvoll zu.
„Und nun vertragt Euch!“ sagte Vilmut jetzt mit Nachdruck. „Ihr processirt Euch sonst noch um Hab und Gut, und Ruhe und Frieden geht dabei in Eurem Hause zu Grunde. Wenn Ihr kein Einsehen habt, so muß ich dazwischen treten, und ich sage es Euch jetzt ernstlich, vergleicht Euch mit einander.“
Die Bauern, welche in dieser Art abgekanzelt wurden, gehörten zu den wohlhabendsten des Dorfes und hätten Niemand, selbst dem Landrichter nicht erlaubt, sich in so dictatorischer Weise in ihre Angelegenheiten zu mischen, von ihrem Pfarrer aber nahmen sie das ganz ruhig hin, und der Eine erwiderte zögernd:
„Wenn Sie meinen, Hochwürden – aber es ist ein hartes Ding, Ja zu sagen, denn ich bin im Recht.“
„Das sagt Jeder,“ unterbrach ihn Vilmut. „Ihr seid Beide im Rechte und im Unrechte zugleich, also müßt Ihr Beide nachgeben. Nun, und Ihr, Rainer?“
Der Genannte kämpfte noch mit seinem Trotze.
„Ich will’s mir überlegen, Hochwürden,“ murrte er.
„Um schließlich Nein zu sagen! Ihr sollt Euch hier und auf der Stelle entscheiden. Der Gemeindevorsteher bietet Euch die Hand, soll die Sache an Eurer Hartnäckigkeit scheitern? Reicht Euch die Hände!“
Es lag keine Aufforderung, sondern ein ganz bestimmter Befehl in den letzten Worten, aber der Herr Pfarrer hatte seine Bauern trefflich in Zucht. Der Gemeindevorsteher streckte die Hand aus, und Rainer legte die seinige hinein. Der Händedruck, den sie wechselten, war nicht besonders freundschaftlich, aber er bewies doch, daß es ihnen mit der Versöhnung Ernst war.
„Das ist recht!“ sagte Vilmut. „Und nun meldet dem Justizrath Freising unverzüglich, daß Ihr den vorgeschlagenen Vergleich annehmt. Aber noch Eins, Rainer! Weshalb wollt Ihr den alten Eckfried nicht mehr im Tagelohn behalten? Seid Ihr unzufrieden mit ihm?“
In dem Gesichte des Bauers zeigte sich eine gewisse Verlegenheit bei der Frage, und er erwiderte achselzuckend:
„Der Alte schafft ja nichts mehr! Er kann nicht mehr fort mit der Arbeit, und ich brauche tüchtige Arme.“
„Der Eckfried ist aber lahm und ohne sein Verschulden in’s Elend gekommen,“ warf der Pfarrer ein. „Was soll aus ihm werden, wenn ihm das Brod genommen wird, das er sich sauer genug verdient?“
„Nun, dann muß ihn eben die Gemeinde verpflegen,“ meinte der Vorsteher. „Wir sind ja, Gott sei’s geklagt, nicht reich, aber verhungern lassen wir unsere Armen nicht.“
„Aber Ihr macht sie zu einer Last für die Gemeinde, wo etwas guter Wille noch helfen könnte. Ich kenne den Eckfried! Der erträgt es nicht, wie ein Bettler von Almosen zu leben, so lange er noch einen Arm rühren kann. Wenn Ihr ihn wirklich nicht mehr brauchen könnt, so soll er zu mir in das Pfarrhaus, und da muß sich irgend eine Arbeit für ihn finden.“
Rainer sah betroffen den Pfarrer an, und der Gemeindevorsteher rief eifrig:
„Nein, Hochwürden, das geht nimmermehr! Sie nehmen ja eine Last nach der anderen auf sich und thun schon genug an den Armen und Kranken im Dorf. Wir müßten uns ja schämen!“
„Ihr seht doch, Rainer schämt sich nicht,“ sagte Vilmut scharf. „Er hat auf seinem großen Hofe keinen Platz für den alten Mann, er überläßt mir die Sorge.“
„Nein, Hochwürden, das thu’ ich nicht!“ erklärte Rainer mit einem plötzlichen Entschluß. „Ich behalte den Eckfried, und ich werde sorgen, daß er es aushält mit der Arbeit.“
Vilmut reichte ihm die Hand, aber nicht mit dem Ausdruck
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_186.jpg&oldid=- (Version vom 25.12.2023)