verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Die wohlthätige Presse.
„Wie schön sind Freuden, die Betrübten frommen!
Wer ist so grämlich, eine Lust zu hindern,
Die darauf ausgeht, Andrer Leid zu mindern,
Und den erfreuen soll, der schwer beklommen?“
Dagegen laß! sich gewiß nichts einwenden, und die Abgabe vom eigenen Vergnügen an fremde Noth ist eine der gerechtesten und am willigsten gezahlten indirecten Steuern. Wenn es aber im Sonett weiter heißt, daß „jedwede Schönheit, die hier strahlt, mit ihren bloßen Armen die Armuth kleiden hilft“, so ist das nicht etwa als eine dichterische Verherrlichung werkthätiger Liebe und Barmherzigkeit aufzufassen. All diese Arme haben sich nur vertrauensvoll unter den Frackärmel opferfreudiger Männer zu schmiegen oder auf deren Schulter in wirbelnder Lust sich zu stützen, vielleicht nur aus der Ferne sich bewundern zu lassen, dann haben sie ihre Pflicht gethan und manchmal noch mehr. Jene Verse eröffnen das „Erinnerungsblatt an das Ballfest im Central-Hôtel am 10. Februar 1883 zu Gunsten der Ueberschwemmten Deutschlands“, veranstaltet vom Verein „Berliner Presse“, und dieses Blatt wurde im Ballsaale selbst gedruckt.
Welch ein Ballsaal, vielleicht einer der schönsten der Welt! Der Blick vermag die ganze Ausdehnung nicht zu erfassen, versucht es aber auch gar nicht, den gewaltigen Raum zu beherrschen oder die schwindelnde Höhe zu ermessen; überall stößt er auf Hindernisse, deren lieblicher Zauber ihn fesselt. Blumen schlingen sich von einer Seite des Saales zur andern, umwinden im Kranze die Säulen, verhüllen die beiden Springbrunnen, die an jedem Ende ihren kühlenden Strahl emporsprudeln und plätschernd zu labender Rast verlocken. Aus buntfarbiger Umhüllung verbreitet das elektrische Licht die milde Helle des scheidenden Hochsommertages, über welchen schon der Dämmerung duftiger Schleier sich breitet; leise Wehmuth beschleicht das Herz; mit glühendem Verlangen sucht das Auge so viel Schönheit, Glanz und Anmuth festzuhalten – bald wird Alles in Nacht versinken, und das Ganze ist ein schöner Traum gewesen!
Aber das Fest hat noch kaum begonnen, und Stunden vergehen, bis es, nach großstädtischer Sitte, den Höhepunkt erreicht. Mehr und mehr füllt sich die Halle; immer schwieriger wird der Kampf der Musik mit dem Gewirr der Menschenstimmen, das anschwillt wie des Meeres Brandung; stets wachsende, immer breiter sich ausdehnende Gruppen verengen in fortwährender Bewegung den Tanzenden das Feld. Ziellos läßt man sich treiben; man sucht nicht mehr, und die sich finden, preisen den glücklichen Zufall. Namen werden genannt, Personen gezeigt, Bekanntschaften gemacht und erneuert; anscheinend ohne Zusammenhang bewegt sich Alles neben einander, durch einander, und doch so einig und verbunden in der allgemeinen glücklichen und gehobenen Stimmung, der wahrhaft festlichen Laune, „Zwanglos!“ heißt die schon von der Nothwendigkeit ausgegebene Losung des Abends; keine gemeinschaftliche Tafel, die so häufig Widerwillige bei ihren zweifelhaften Genüssen festhält, freie genossenschaftliche Vereinigungen, keine heimtückischen Trinksprüche – unbeschränkte Mündlichkeit, aber mit Ausschluß der Öffentlichkeit, und die Beredsamkeit der Blicke stellt den gefeiertsten Toastredner in Schatten. Diese vollständige Freiheit der Bewegung ist der höchste Lobspruch für die Ordner des Festes, die in der That Mustergültiges geleistet und auf’s Neue bewiesen haben, daß die beste Regierung diejenige ist, welche man nicht sieht, noch merkt. Leicht und beweglich windet sie sich durch die dichtesten Reihen, die gedrungene, lebenskräftige Gestalt Hans Hopfen’s – meist führt er eine Dame am Arm; überall hin schüttelt er die Hände, tauscht er einen scherzhaften Gruß in treuherziger baierischer Mundart, sicher einer der vergnügtesten harmlosesten Festgenossen – weit gefehlt, er gerade ist die Seele dieser Regierung und in fortwährender Thätigkeit, ohne daß es ihm gelänge, einen einzigen Unzufriedenen zu entdecken, selbst dann nicht, wenn er mit polizeiwidriger Liebenswürdigkeit einer vordringlichen Cigarre das Lebenslicht ausbläst. Die übrigen Mitglieder des Comités unterstützen ihn ebenso geräuschlos und unmerklich. Hugo Bürger, der fortan auch auf dem Theaterzettel seinen bürgerlichen Namen Lubliner führen und darum nicht minder erfolgreich sein wird, Karl Frenzel, der feinsinnige Kritiker, Emil Jacobson, der im Verein mit Ernestine Wegner Berlin auch in der trübsten Stimmung zum ausgelassensten Gelächter zwingt, Alexander Meyer, der das Parlament nicht immer überzeugt, aber niemals langweilt, Richard Schmidt-Cabanis, ein glühender Freiheitskämpfer, auch dann, wenn er in der Kutte des Schalksnarren zu Felde zieht, Robert Schweichel, dessen Gedächtnißrede auf Gottfried Kinkel einen so weithin tönenden Widerhall gefunden, und die übrigen Mitarbeiter des Comités lassen die Früchte einer aufopfernden mühevollen Thätigkeit von Anderen ahnungslos genießen.
Jetzt ist es an der Zeit, von der nach den Nebensälen führenden Freitreppe einen Blick auf das lebensvolle Bild zu werfen, das sich inzwischen in ganzer Vollständigkeit und berauschender Schönheit entfaltet hat. Ganz Berlin ist zum Stelldichein eingetroffen, berückende Frauen und bedeutende Männer, strahlende Gewänder und glänzende Namen; eine unbeschreibliche Fülle von Pracht und Reiz wogt und fluthet einher; jedes Alter, jeder Stand ist vertreten, und doch nirgends ein Unterschied – eine Vereinigung, wie sie nur in einer wirklichen Großstadt möglich und doch in dieser Eigenart, solch blendender Vollendung selbst hier in Berlin neu und überraschend!
Die Presse hat, ihrer Aufgabe gemäß, einem allgemeinen Gedanken den Ausdruck, einem unbestimmten Gefühl die Anregung gegeben, damit aber ihren Beruf erfüllt; auch sie hat nur als Gast diese Schwelle überschritten und den Uebrigen sich zugesellt. Mit jener glücklichen Harmlosigkeit, der übersprudelnden Lust am Augenblicke, die der Grundzug seines Wesens und Schaffens, vergißt Paul Lindau alle Sorgen und Aufregung, die sein neues Stück „Mariannens Mutter“ ihm verursacht, und wendet seine Aufmerksamkeit hauptsächlich den Töchtern zu, während Julius Stettenheim auch hier den Verlust seines unersetzlichen Freundes Ernst Dohm nicht ganz verschmerzen kann. Plötzlich wird Emil Rittershaus sichtbar, auf dem Heimwege von einer Vortragsreise, die ihn bis nach Oesterreich geführt, gönnt er sich die nächtige Rast; zwischen zwei schönen Frauen, vor sich den funkelnden Römer, lacht dem Sänger so vieler Trink- und Liebeslieder die behaglichste Ruhe, während an demselben Tische Victor Blüthgen darüber zu sinnen scheint, wie all die Märchen um ihn her für Kinder zu erzählen seien.
Daß die parlamentarische Saison auf ihrer Höhe befindlich, wird hier nicht ganz erkennbar, Wähler und Abgeordnete vergessen so gern die Politik, die sie fast überall hin verfolgt, und das Incognito ist nicht mehr nur ein Bedürfniß der Fürsten. Lasker freilich kann sich nicht verbergen, und Jeder weiß, was der melancholische Zug bedeutet; in den Verein der Berliner Presse wurde vor einigen zwanzig Jahren der bis dahin ganz unbekannte Assessor eingeführt, und was Alles hat er, haben wir seitdem erfahren! Auch Hänel blickt nicht ganz heiter, der weltmännische Professor mit den überall gleich liebenswürdigen Umgangsformen, vergißt aber sehr bald den Staat und findet für seine unpolitischen Erörterungen hingebende Parteigängerinnen; er hat mehr Frauen für, als Männer gegen sich. Ludwig Loewe erweist sich auch hier als unverbesserlicher Freihändler, der sich durch keine Zollschranke an dem Exporte seiner Huldigungen behindern läßt; wer aber die stenographischen Berichte allzu wörtlich nimmt, der dürfte über den „ostpreußischen Bauern“ Dirichlet einigermaßen erstaunt sein.
Näher als die Politik steht an solchen Abenden das Theater der Presse, und auf den Brettern des Ballsaals erzielt die kleinste Soubrette durchschlagendere Wirkung, als der größte Volkstribun. Und fast vollzählig sind sie erschienen, die Künstler und Künstlerinnen, denen die Hauptstadt so gern huldigt und deren persönliche Bekanntschaft das Ziel so vieler Wünsche ist. Für die Künstlerinnen besonders entfaltet sich ein Feld lohnender Thätigkeit; in den stets dichtumdrängten Verkaufsbuden bieten sie die Loose einer Tombola aus, welche mit dem Feste verbunden ist.
Eine unwiderstehliche Anziehungskraft übt auch als Verkäuferin Lilli Lehmann, deren Baronin in Lortzing’s „Wildschütz“ jetzt Alles bezaubert. Nach langen Jahren hat die Hofbühne diese alte und doch ewig jugendfrische, echt deutsche Spieloper der Vergessenheit wieder entrissen, und die von so viel Lärm und Geschrei
verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1883, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_142.jpg&oldid=- (Version vom 21.12.2023)