Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
|
„Ich bin nicht wohl gewesen, bin es noch nicht,“ erklärte Raimund, indem er sein Pferd zu langsamerer Gangart anhielt, sodaß Paul nebenher schreiten konnte.
Die Worte schienen kein bloßer Vorwand zu sein; denn Werdenfels hatte sich in den wenigen Tagen auffallend verändert. Die tiefen Linien auf der Stirn und in den Zügen traten schärfer hervor; die Augen, um welche sich dunkle Ringe zogen, sahen überwacht und fieberhaft aus, und um den Mund lag wieder jener Zug verbissenen Schmerzes, wie bei der letzten Zusammenkunft.
„Du bist krank gewesen?“ rief Paul, der jetzt in der That sah, daß nicht blos die vermeinte Ungnade ihn von den Gemächern des Onkels fern gehalten hatte. „Ich habe nicht das Geringste davon gehört; sonst hätte ich –“
„Es war nicht von Bedeutung,“ unterbrach ihn Raimund. „Mein altes Uebel, ein dumpfer Kopfschmerz, der mich oft wochenlang peinigt! Das muß ertragen werden.“
Paul fühlte die Kälte in dem Tone, der jedes Bedauern verbat. So sagte er nun auch seinerseits etwas kühl und gemessen:
„Du solltest Dir mehr Bewegung machen. Deine Gesundheit muß ja darunter leiden, wenn Du Dich so einschließest.“
Werdenfels erwiderte nichts, sondern ritt im Schritt weiter bis zum Ausgange des Waldes, den eine breite tiefe Schlucht begrenzte. Es war der Wildbach, der sich hier in das Thal hinabstürzte; jetzt war er freilich erstarrt, und dichter Schnee lag auf den Baumwurzeln und Felstrümmern, über die er sonst hinweg schäumte. Drüben auf der anderen Seite streckte sich, gleichfalls schneebedeckt, eine freie Bergwiese hin, und dort wurde auch wieder die Windung des Fahrwegs sichtbar, der weiter oberhalb durch den Wald führte.
Der Freiherr hielt sein Pferd an und blickte hinüber.
„Kennst Du den Punkt?“ fragte Paul, welcher der Richtung jenes Blickes folgte. „Man hat von dort die Aussicht über das ganze Thal; ich habe sie neulich entdeckt, aber ich kam von der anderen Seite. Schade, daß die Wiese von hier aus unzugänglich ist!“
„Unzugänglich – weshalb?“
„Nun, man müßte doch nothgedrungen in die Schlucht hinein- und auf der anderen Seite wieder hinaufklettern. Ich brächte das im Nothfall zu Stande, aber Du – oder willst Du vielleicht über das Hinderniß wegsetzen?“
Die Frage klang scherzhaft, aber es spielte doch ein leises Spottlächeln um die Lippen des jungen Mannes, als er sich seinen Onkel in dieser Situation vergegenwärtigte.
Werdenfels mußte das bemerkt haben; denn er richtete sich plötzlich empor. Der müde, halb gebrochene Mann saß auf einmal fest und sicher im Sattel, und seine Hand faßte energisch die Zügel. Dabei brach wieder jenes seltsame blitzähnliche Aufflammen aus seinen Augen, während er, ohne ein Wort zu sprechen, dem Pferde die Sporen in die Seiten setzte und im nächsten Augenblicke flogen Roß und Reiter in mächtigem Satze über die Schlucht, und drüben gruben sich die Hufe des Thieres tief in den Schnee ein.
Paul stand wie gelähmt vor Ueberraschung bei diesem Wagstück, das weder Roß noch Herrn besonders anzustrengen schien; denn Emir stand ganz ruhig auf der Wiese, und der Freiherr rief mit voller Gelassenheit hinüber:
„Nun, Paul, willst Du nicht auch herüberkommen?“
Der junge Mann gehorchte; er kletterte in die Schlucht und stieg auf der anderen Seite wieder empor, aber die Sache war doch schwieriger, als er geglaubt hatte, und er kam ganz erhitzt drüben an.
„Raimund, um Gottes willen, wie konntest Du meinen Scherz so ernst nehmen!“ rief er vorwurfsvoll. „Das war ja eine Tollkühnheit sonder Gleichen! Was veranlaßte Dich – – ?“
„Dein Lächeln!“ sagte Raimund scharf. „Du wußtest vielleicht selbst nicht, wie mitleidig es war. Du siehst – es giebt doch wenigstens einen Punkt, in dem ich es noch mit Dir aufnehme.“
„Nein, darin bist Du mir überlegen,“ versetzte Paul ehrlich. „Ich thue mir auf meine Reitkunst etwas zu Gute, aber diese Schlucht hätte ich denn doch nicht so ohne Weiteres genommen, und ein anderes Pferd als Emir hätte auch den Sprung versagt. Gott sei Dank, daß das Wagstück noch so glücklich ablief! Es hätte Dir das Leben kosten können.“
Raimund zuckte die Achseln.
„Vielleicht! Um so besser für Dich!“
„Wie meinst Du?“
„Ich meine, daß Du Dich über einen solchen Fall nicht gerade zu beklagen hättest – oder hast Du wirklich noch niemals daran gedacht, daß mein Tod Dich zum Herrn von Werdenfels macht?“
Der junge Mann erröthete heftig. Er hatte vorhin erst ein glänzendes Luftschloß gebaut, in dem er sich als Herr und Gebieter von Werdenfels erblickte, und das drückte ihn jetzt wie eine Schuld, obgleich er dabei mit keiner Silbe an den Tod seines Onkels gedacht hatte. Der Freiherr sah dieses Erröthen und lächelte, aber es war ein schlimmes Lächeln.
„Ich mache Dir durchaus keinen Vorwurf daraus,“ fuhr er fort. „Es ist das Schicksal jedes Erblassers, daß die Erben auf seinen Tod warten, und uns knüpfen ja nur rein äußerliche Verwandtschaftsbande an einander. Fasse Dich in Geduld! Vielleicht ist das Ziel Deiner Wünsche nicht mehr weit entfernt.“
Die herben Worte schienen eigens darauf berechnet zu sein, den jungen Mann zu stacheln und zu beleidigen, und sie erreichten das auch; er fuhr empört auf:
„Raimund, was denkst Du von mir! Womit habe ich es verdient, von Dir als ein Erbschleicher angesehen zu werden, der jeden Athemzug berechnet, der ihn noch von seinem Erbe trennt? Du weißt am besten, daß Du frei über Deine Besitzungen verfügst, daß ich keinen anderen Anspruch darauf habe, als den Du selbst mir zugestehst, und ich weiß es jetzt, daß das Geständniß meiner Liebe mir Dein Wohlwollen gekostet hat. Ich bin darauf gefaßt, die Folgen zu tragen.“
„Und wenn ich Dir nun in der That die Wahl stellte zwischen dieser Liebe und dem dereinstigen Besitz von Werdenfels,“ sagte Raimund langsam und jede Silbe betonend, „würdest Du trotz alledem an Deiner Neigung festhalten?“
Paul erbleichte und zögerte mit der Antwort; so schroff und rücksichtslos hatte er sich die Frage doch noch niemals gestellt, aber sein Schwanken dauerte nur einige Secunden; dann erwiderte er fest:
„Trotz alledem!“
„Wirklich? Ich hätte Dir diese Romantik gar nicht zugetraut. Die Augen, die Dir ‚wie glückverheißende Sterne aufgingen‘, scheinen ja im Handumdrehen aus dem Leichtsinn einen idealen Schwärmer gemacht zu haben.“
Paul hörte nicht die furchtbare, mühsam verhaltene Gereiztheit, die sich hinter den Worten barg; er hörte nur den Hohn darin, und das raubte ihm jede Ueberlegung, von der er ohnehin nicht allzuviel besaß.
„Ich hoffe Dir zu beweisen, daß ich noch mehr kann als nur schwärmen,“ brach er heftig aus. „Du magst meine Liebe mißbilligen – verspotten lasse ich sie nicht, auch von Dir nicht! Du begreifst es wohl, wenn ich Dich jetzt um die Erlaubniß bitte, Felseneck verlassen zu dürfen.“
Er hätte sich von dem Vorwurf, daß es ihm um die Erbschaft zu thun sei, nicht nachdrücklicher reinigen können, als durch dieses trotzige Aufflammen, das unfehlbar zu einem Bruche führen mußte, aber der Freiherr war nun einmal unberechenbar; anstatt in Zorn zu geraten, sah er den jungen Mann fest und prüfend an; dann sagte er mit vollkommener Ruhe:
„Willst Du jetzt schon nach Buchdorf übersiedeln? Ich rathe Dir nicht dazu; denn der Pächter hat es bis zum Frühjahr noch contractlich in Händen. Du würdest da als Gutsherr einstweilen noch eine unbequeme Stellung haben.“
„Ich als Gutsherr?“
„Nun, ich habe Dir Buchdorf doch als Eigenthum zugesagt. Denkst Du, ich werde mein Wort nicht halten? Justizrath Freising hat das Document bereits ausfertigen lassen, und ich habe es unterschrieben. Du wirst es zu Hause auf Deinem Schreibtische finden.“
Paul war so bestürzt über diesen jähen Wechsel von Ungerechtigkeit und Güte, daß er keine Worte fand. Die eiskalte Art freilich, in der das Geschenk geboten wurde, schien die Güte auszuschließen.
„Du willst ja keinen Dank,“ sagte er endlich. „Du hast ihn neulich so schroff zurückgewiesen, daß ich mich scheue, auch nur ein Wort davon zu sprechen. Raimund – warum nimmst Du mir denn jede Freude an Deinem überreichen Geschenk, indem Du es mir so bietest?“
Der Vorwurf blieb nicht ohne Wirkung; zwar wich der herbe Ausdruck nicht aus Raimund’s Zügen, aber seine Stimme klang doch milder, als er erwiderte:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_139.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2023)