Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
|
No. 9. | 1883. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Gebannt und erlöst.
Der Winter hielt diesmal frühzeitig seinen Einzug in die Berge. Er kam mit Sturm und Schneetreiben, mit jagenden Wolken und eisigen Nebeln, und Paul Werdenfels lernte zum ersten Male die ganze Rauhheit und Unwirthlichkeit dieser Natur kennen. Er kam sich in Felseneck wie ein Gefangener vor und wollte fast verzweifeln in der Oede und Einsamkeit, die ihn umgab; nicht einmal die Aussicht nach Rosenberg war ihm geblieben; denn er blickte von seinen Fenstern aus nur in ein wogendes Nebelmeer.
Ueberdies konnte der junge Mann sich nicht verhehlen, daß er bei seinem Onkel vollständig in Ungnade gefallen; er hatte diesen seit jener Unterredung noch nicht wiedergesehen; denn die kurzen, aber ziemlich regelmäßigen Besuche waren vollständig unterblieben; der Freiherr hatte ihn noch nicht wieder rufen lassen; er blieb in seinen Gemächern, unzugänglich für Jeden; schien er doch auch Paul vergessen zu haben.
Endlich begann das Wetter sich zu ändern; es hörte auf zu stürmen; die Nebel sanken, und die aufsteigende Sonne des nächsten Tages zeigte das ganze Gebirge mit all seinen Gipfeln und Wäldern in blendendem Schneegewande.
Paul war schon mit den ersten Sonnenstrahlen hinausgeeilt in das Freie und streifte jetzt mit Flinte und Jagdtasche durch die Forsten, aber die Jagd war ihm heute nur Vorwand. Er wollte vor allen Dingen hinweg aus den Mauern von Felseneck, wollte endlich etwas Anderes sehen, als diese prachtvollen, leeren Räume und diese schweigende, ehrfurchtsvolle Dienerschaft. Dort unten lag Werdenfels; dort waren Menschen; dort war Leben und Glück, aber was fragte Raimund von Werdenfels nach all diesen Dingen; er hatte nur den Haß mit sich hinaufgenommen in seine Einsamkeit, als er sich von der Welt und den Menschen abwandte. Es war wohl verzeihlich, wenn dem jungen Manne bittere Gedanken aufstiegen, als er sich ausmalte, wie er als Herr hier schalten und walten würde, sich und Anderen zur Freude und zum Segen. Was half es ihm, daß er der dereinstige Erbe der Güter war? Die Erbschaft lag noch in weiter Ferne, und wenn er bisher auf die Güte des Freiherrn angewiesen gewesen war, so fühlte er jetzt, was es hieß, von dessen Launen abhängig zu sein.
Der Wald war nicht so unwegsam, wie es den Anschein hatte; der Schnee lag nicht allzu hoch und war überall festgefroren, und der helle Sonnenschein lockte den jungen Mann immer weiter hinaus. Er war bereits über eine Stunde von Felseneck entfernt und erreichte jetzt einen Fahrweg, der, in steiler Windung aus dem Thale aufsteigend, nach der Försterei und von da weiter hinauf in die Berge führte. Paul überlegte eben, ob er den Weg verfolgen und der Försterei einen Besuch abstatten sollte, als er einen alten Bauer gewahrte, der soeben die Höhe erstiegen hatte.
Der Alte sprach beim Erblicken des Fremden das übliche „Grüß’ Gott!“, aber der frohe helle Gruß der Bergbewohner kam müde und gepreßt von seinen Lippen, während er selbst sich schwerathmend und erschöpft auf seinem Bergstock lehnte.
„Es will wohl mit dem Steigen nicht mehr recht gehen in Ihren Jahren?“ fragte Paul, indem er den Gruß erwiderte.
„Die Jahre sind ’s nicht,“ war die kurze, fast unfreundliche Antwort. „Mit denen nehm’ ich es schon noch auf. An dem Fuß da liegt es, daß ich nicht vorwärts kann.“
Paul sah erst jetzt, daß der Mann lahm war und daß ihm das Gehen sehr beschwerlich fiel. Es war eine kräftige, untersetzte Gestalt, aber gebeugt von Alter und Arbeit. Dichtes graues Haar kam unter dem Hute zum Vorschein, und in die braunen verwitterten Züge grub sich Furche an Furche. Es lag nicht die gleichgültige apathische Ruhe darin, die sich nur zu oft dort findet, wo schwere körperliche Arbeit das geistige Element ganz in den Hintergrund drängt; dieses Gesicht hatte etwas Hartes, Verschlossenes, aber zugleich auch Entschlossenes, und der Blick, der den jungen Fremden streifte, war finster und mißtrauisch.
„Sie sind lahm?“ fragte Paul mitleidig. „Da mag Ihnen der Weg schwer genug geworden sein. Sie wollen vermuthlich nach der Försterei?“
Der Alte schüttelte den Kopf und wies nach einem Gehöfte, das einsam hoch oben am Bergeshange lag.
„Nein, ich will weiter hinauf – nach dem Mattenhofe da oben.“
„So hoch hinauf? Das schaffen Sie ja gar nicht mit dem kranken Fuße.“
„Man schafft es schon, wenn man eine Tochter hat, die da oben auf den Tod liegt. Oft komm’ ich freilich nicht hinauf, und vielleicht ist es heute das letzte Mal; denn sie macht es nimmer lange, wie der Doctor sagt.“
Der gramvolle Ausdruck in den Zügen des alten Mannes erregte Paul’s Theilnahme. Er hatte zuerst nur flüchtig, wie im Vorbeigehen gesprochen; jetzt trat er näher heran.
„Die Matten-Bäuerin ist Ihre Tochter? Da begreife ich es allerdings, daß Sie den schweren Weg machen. Am Ende ist es gar Ihr einziges Kind?“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_137.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2023)