Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
|
großen Revolution. Wenn die Erbauer wüßten, was die Nachkommen aus ihren Schöpfungen machen, es würde schon Vieles ungebaut geblieben sein.
Ein Tisch im Garten dieses Palastes war es, auf welchem Camille Desmoulins die bewaffneten Volksversammlungen einer neuen Zeit erfand, die schon zwei Tage später die Bastille zertrümmerten. Der Palast hieß, auch nachdem sein damaliger Besitzer, der Herzog von Orleans, guillotinirt worden war, „Palais Egalité“. Seit dem vierten September 1870 sieht man wieder die Orleans, Bonapartes und Bourbons wie verscheuchte Raubvogel um ihr altes Nest herumflattern.
In einer Restauration „à John Bull“, in der Rue de Rivoli, gönnten wir uns die Rast zu einem „Dejeuner“. Es war nicht besser und nicht schlechter, als gestern mein „Diner“ gewesen, aber ich genoß es, auch das Belagerungsbrod, ohne Umstände.
Als wir beim Kaffee saßen, tönte das Unerwartetste für unser Ohr plötzlich von draußen her: gewaltiges Pferdegetrappel. Zwischen zwei- und dreihundert vollständig aufgeschirrte Pferdepaare wurden dahergeführt, und der Jubel war ganz außerordentlich, der aus der Straße, aus den Thüren und bis hinauf zu den höchsten Fenstern der Häuser und Paläste diese neuen Nachkömmlinge ihrer verzehrten Vorgänger mit Mund und Hand begrüßte. Wir erfuhren, daß dieselben zur Vervollständigung der Omnibuslinien, vor Allem auf den großen Boulevards bestimmt seien, was auch für uns eine gute Aussicht eröffnete.
Mehr als zu allen bisher besuchten Gegenständen hatte der Genius der Geschichte Ursache, uns zum nun folgenden voranzuschreiten: zu dem vereinigten Doppelpalast des Louvre und der Tuilerien. Beide waren aus kaiserlichen in Volkspaläste umgewandelt worden, und auf beiden wehte die weiße Fahne mit dem rothen Kreuz. Wir durchwandelten alle Höfe, den Napoleons- und den Carousselplatz, und schritten um die ausgedehnten Riesenglieder des ganzen Baues; das mußte auch hier genügen; denn in’s Innere war nicht zu kommen. So weit die Kunstsammlungen des Louvre und der Gallerien reichten, sah ich auch hier die hohen Fenster noch theilweise mit Sandsäcken verrammelt. Der Flügel der Tuilerien, welchen die Kaiserfamilie bewohnt hatte, war ebenfalls zu Lazarethen verwendet; an den Fenstern, aus welchen Napoleon und Eugenie auf ihr getreues Paris geschaut, standen jetzt Soldaten mit verbundenen Köpfen und anderen Wunden und Gebresten. Den traurigsten Anblick bot der wahrhaft entsetzlich zerfahrene und zerstampfte Tuileriengarten. Um den häßlichen Eindruck, den der Anblick der Verwüstung edelster Naturpracht immer zurückläßt, rasch los zu werden, bat ich P., mir nun einen versöhnenden Genuß zu verschaffen.
„Diesen gewährt immer die Umschau von einer unserer schönen Brücken,“ erwiderte er, und so gingen wir wieder Tuilerien und Louvre entlang bis zum „Pont des Arts“. Er hatte Recht. Der Blick auf die uns umgebende Pracht war nach jeder Seite hin entzückend, malerisch am imponirendsten nach Osten zu den Gebäudemassen der Cité-Inseln.
„Dreierlei möchte ich noch sehen, ehe ich von Paris scheide, lieber Freund,“ sagte ich nun: „den Dom der Invaliden mit Napoleon’s Grabstätte, den Concordienplatz und den Platz der Bastille! Ist das noch möglich?“
„Das wird gerade die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges ausfüllen,“ sprach er. „Gehen wir ohne Verweilen daran!“
Wir schritten zum Quai d’Orsay hinüber, eilten ohne Aufenthalt an allen Pracht- und Staatspalästen dieser Straße vorbei und standen nach kurzer Zeit vor der „Esplanade der Invaliden“. Hier war wieder Belagerungs-Paris: beide Seiten des großen Platzes nahm eine bedeutende Anzahl zeltartiger Holzbaracken ein, welche für die Besatzungstruppen errichtet worden waren und mit deren Beseitigung man soeben begann. Dazwischen aber war ein so bodenloser Schmutz, daß ich die Hosenbeine bis über die Stiefelschäfte hinauszog und, mit großen Schritten vorwärts steigend, im schönsten Sächsisch „Ach Hercheses, Hercheses!“ ausrief. P. wollte wissen, was ich gesagt habe; ich konnte es ihm nur als einen Ausdruck der Freude über die schöne Gegend erklären. Endlich hatten wir das Gitterthor des Gartens erreicht; P. öffnete, und wir traten ein, beide ohne eine Ahnung davon, welch gefährlichen Gang wir wagten.
Ohne viel umzuschauen – nur einen Blick warf ich auf die Batterie der großen Triumphkanonen der Invaliden zur Rechten – schritten wir dem Portal zu, vor dem mehrere der alten Schnauzbärte saßen und standen, aber alle mit Gesichtern, aus denen ein böser Grimm grollte. P. zog den Hut tief herab; ich folgte seinem Beispiel. Dann fragte er ehrerbietigst, ob es gestattet werde, wenigstens in den unteren Gängen des Hauses sich ein wenig umzusehen. Der Alte, an den er sich gewendet, knurrte etwas in den Bart, das ich für „Non“ hielt. P. aber hatte „Oui“ herausgehört; und mit Recht, denn wir durften eintreten. P. führte mich durch mehrere Gänge, in denen nichts Besonderes zu sehen war, aber er tröstete mich damit, daß wir durch sie in einen Hof kämen, wo ein Eingang zum Dome sei. Wir fanden auch diesen Hof, aber hier stand ein Schilderhaus, das einem großen Beichtstuhl glich, und darin befand sich ein wachhaltender Invalide. Als P. nun diesen fragte, ob der Eintritt in die Kirche erlaubt sei, glaubte ich „Oui“ zu hören, aber diesmal war’s „Non“: denn P. erkundigte sich höflichst nach dem „Warum?“, erhielt jedoch die barsche Weisung: „Es dürfe Niemand aus Paris den Dom betreten, weil darin gebaut werde.“ Darauf empfahl sich P. mit tiefer Verbeugung – ich auch.
Während wir zurückgingen, äußerte ich mein Bedauern, gerade diesen Dom nicht scheu zu können, der allein eine Reise nach Paris werth sei. Da winkte er mir, zu schweigen, und führte mich in einen langen, gewölbten Gang, an dessen linker Wand ich sechs bis acht Thüren sah. Er lauschte nach allen Seiten, ging hart an den Thüren hin und probirte die Drücker. Bei der dritten Thür stand er still, lauschte noch einmal, öffnete sie, schob mich hinein, folgte rasch nach und schloß die Thür wieder. Dann gab er mir seinen Rockflügel in die Hand, und nun schlichen wir in der Stockfinsterniß langsam und leise, immer lauschend, vorwärts. Endlich stand P. still, und wieder lauschten wir, und als sich durchaus kein Laut regte, öffnete P. auch hier eine Thür mit größter Vorsicht ein wenig, und schon durch den schmalen Spalt drang eine Fülle von Licht- und Goldstrahlen.
Als wir uns nach langem Horchen und Lauschen überzeugt hatten, daß die Kirche offenbar leer, keine Seele darinnen war, öffnete P. die Thür ganz, und wir traten ein; wir waren im Dom. Der Eindruck von Licht und Gold war betäubend. Und doch entsann ich mich sofort, gelesen zu haben, daß die Kirche mit vielen eroberten Fahnen ausgeschmückt sei: ich sah keine einzige. P. schien dies nicht beachtet zu haben. Er lugte einen Augenblick nach allen Seiten um; dann flog er förmlich über den Boden hin zur Oeffnung der Krypta, durch welche man auf Napoleon’s Sarg blicken kann. Eben hatte ich mich ausgemacht, ihm, freilich viel schwerfälliger, zu folgen, da eilte er schon, nach nur einem Blick in die Gruft, kreideweiß zurück und flüsterte mir zu: „Höchste Gefahr!“ Sofort standen wir wieder in dem finsteren Gang und schlichen, wie früher und angestrengt horchend, denn Ausgange zu.
Draußen nahten Schritte. Ich fühlte, wie P. am ganzen Leibe zitterte. Die Schritte gingen vorüber. Aus der Ferne hörten wir rasches Laufen mehrerer Personen; es kam bis in die Halle, verschwand aber wieder. Wir schwitzten alle beide in dieser herrlichen Situation, und ich machte mir die bittersten Vorwürfe, uns durch meinen dringend ausgesprochenen Wunsch in diese Gefahr gebracht zu haben. Endlich blieb lange Zeit Alles ruhig. Da öffnete P. rasch die Thür, schloß sie leise – und nun suchten wir eiligst aus dem langen Gange fort zu kommen. Dank der Localkunde P’s gelangten wir abseits des Portals wieder in den Garten, machten den Herren Invaliden unser Compliment aus der Ferne und athmeten wieder aus, als das Gitterthor hinter uns zufiel. Aber erst jenseits der Concordienbrücke, die wir im Sturm überschritten hatten, kam P. zur Erklärung.
„Die Invaliden,“ sprach er, „sind die treuesten Bonapartisten. Der Kaiser hat allen Schmuck aus Napoleon’s Gruft entfernt, Krone, Degen, Fahnen, Nichts ist mehr da, und die Invaliden sind die Wächter des großen Geheimnisses. Was, glauben Sie, wäre die Folge gewesen, wenn sie uns im Dome erwischt hätten? Wir wären aus dem Invaliden-Hôtel schwerlich, wenigstens nicht so bald, wieder herausgekonnnen.“[1]
- ↑ Die „Französische Correspondenz“ vom 18. April 1871 berichtet über eine Durchsuchung des „Hôtel des Invalides“ durch eine starke Abtheilung der Nationalgarde. „Sie suchte auch nach den Reliquien Napoleons, fand aber in der Krypta des Grabes weder den Degen, noch die Krone, noch den Hut des entschlafenen Cäsar. Der Neffe hatte Alles schon beim Beginn des Krieges in Sicherheit gebracht.“ (Dies war also geschehen, und zwar ohne daß man in Paris eine Ahnung davon gehabt hätte; so fest halten die alten Grauköpfe das Geheimniß bewahrt.)
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_119.jpg&oldid=- (Version vom 17.2.2023)