Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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No. 6. | 1883. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Gebannt und erlöst.
„Lily, scherzen Sie doch nicht in so gottloser Weise!“ rief Fräulein Hofer, indem sie sich bekreuzigte. „Sie ahnen gar nicht, was für dunkle, schreckliche Geheimnisse dieses Felseneck birgt. Wenn Sie es wüßten!“
Sie nahm eine äußerst geheimnißvolle Miene an, und Lily horchte hoch auf, als zu ihrem großen Leidwesen ihre Schwester diese interessanten Enthüllungen unterbrach. Die junge Frau schien sich nicht sehr für das Gespräch zu interessiren; sie war an die Balconthür getreten und blickte in den Garten hinaus, jetzt aber sagte sie, ohne sich umzuwenden:
„Füllen Sie Lily’s Phantasie doch nicht mit solchen Geschichten an. Wer wird derartige Märchen glauben!“
„Märchen?“ wiederholte das Fräulein empfindlich. „Es sind keine Märchen – das weiß ich am besten. Mein Vater ist ja lange Jahre hindurch Förster in Werdenfels gewesen, ehe er die großen Bergforsten übernahm, die zu Felseneck gehören. Er war es, der den jungen Freiherrn damals halb todt von der Geisterspitze herunter brachte. Sie kennen doch die Geisterspitze, Lily?“
„Ja, dort oben sitzt die Eisjungfrau!“ lachte Lily. „Das habe ich schon als Kind gewußt, als wir noch bei Vetter Gregor lebten. Ich hätte für mein Leben gern die weiße Majestät einmal gesehen, aber sie geruhte niemals zu uns herabzusteigen.“
„Der Himmel bewahre uns davor!“ fiel Fräulein Hofer ein. „Kennen Sie denn nicht das Sprüchwort hier zu Lande: ‚Wenn die Eisjungfrau in das Thal niedersteigt, dann bringt sie Verderben‘?“
„Das Sprüchwort hat sein gutes Recht,“ sagte Anna in einem eigenthümlich kalten Tone. „Von der Geisterspitze wehen im Herbste und Winter die eisigen Schneestürme nieder; von dort stürzen die Lawinen. In diesem Sinne hat Ihre Eisjungfrau dem Thale allerdings schon oftmals Unheil gebracht. Das Volk verkörpert sich eben die Elementargewalt in der Sage, aber die Gebildeten sollten sich von diesem Aberglauben frei halten.“
Damit öffnete sie die Glasthür, die auf den Balcon führte, und trat hinaus. Fräulein Hofer sah ihr mit etwas gereizter Miene nach.
„Die gnädige Frau ist ein Freigeist,“ bemerkte sie. „Freilich, in der Residenz ist man ja so sehr aufgeklärt und lacht über Alles, was sich nicht mit dem nüchternen Verstande begreifen läßt. Sie, Lily, haben das im Institute wohl auch gelernt.“
„Ach, ich höre noch gar zu gern Gespenstergeschichten!“ versicherte Lily. „Bitte, bitte, Fräulein Emma, erzählen Sie mir! Was ist das mit diesem Werdenfels und mit der Geisterspitze? Ich höre überall nur dunkle Andeutungen und sterbe fast vor Neugier, irgend etwas Näheres darüber zu erfahren. Bitte erzählen Sie!“
Fräulein Emma ließ sich nicht allzu lange bitten; sie erzählte offenbar sehr gern. Anfangs dämpfte sie noch, mit einem Blicke auf die offene Balconthür, ihre Stimme bis zum Flüstertone, aber schon nach wenigen Minuten vergaß sie diese Vorsicht und sprach ganz laut.
„Es ist schon sehr lange her –“ begann sie.
„Das wird interessant!“ unterbrach sie Lily. „So fangen gerade die schönsten Geschichten an. Also, es ist schon sehr lange her – wohl schon ein paar hundert Jahre?“
„Nein, das gerade nicht!“ sagte das Fräulein, etwas aus dem Concepte gebracht. „Im nächsten Frühlinge werden es gerade vierzehn Jahre, daß Werdenfels niederbrannte, und unmittelbar nach dem Brande verschwand der junge Freiherr.“
Lily hatte sich dicht neben die Erzählerin gesetzt und las ihr förmlich die Worte von den Lippen. Ihr konnte man augenscheinlich nicht den Vorwurf nüchterner Aufklärung machen; sie hatte noch das ganze gläubige Interesse des Kindes für die „Gespenstergeschichten“.
„Er war nirgends im ganzen Schlosse zu finden,“ fuhr das Fräulein fort. „Man fragte und suchte überall umsonst: endlich erfuhr man, daß er in die Berge geritten sei, aber als der Tag zu Ende ging und auch die Nacht verfloß, ohne daß er zurückkehrte, mußte man nothgedrungen ein Unglück annehmen. Der alte Freiherr, der sonst gar keine besondere Zärtlichkeit für seinen Sohn hegte und ihn im Gegentheile sehr streng behandelte, gerieth diesmal ganz außer sich und schien das Schlimmste zu fürchten. Es wurden Boten nach allen Richtungen hin ausgesandt, und als sie sämmtlich unverrichteter Sache zurückkehrten, nahm mein Vater mit seinen Jägerburschen die Nachforschungen auf. Sie kamen auch bald auf die rechte Spur; sie fanden das Pferd auf einer Bergwiese gerade am Fuße der Geisterspitze, herrenlos und fast zusammengebrochen vor Erschöpfung. Baron Raimund aber war, wie sich später ergab, weiter bergaufwärts gestiegen und hatte sich dort wahrscheinlich bei einbrechender Dunkelheit verirrt; denn er war bis in die Klüfte und Schneefelder der Geisterspitze gerathen. Dort wurde er denn auch gefunden, besinnungslos, erstarrt, ohne alle Lebenszeichen. Man glaubte anfangs, er würde überhaupt nicht wieder erwachen, und
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_089.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2023)