Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Die Gothenburger Ausschank-Gesellschaft.
In Holland wirken zwei Mäßigkeitsgesellschaften neben einander: „Die niederländische Gesellschaft zur Abschaffung geistiger Getränke“, deren Wochenblatt „Volksfreund“ schon in seinem siebenunddreißigsten Jahrgange steht, und „Der Volksbund gegen den Mißbrauch berauschender Getränke“, 1875 durch den leider schon im Jahre darauf verstorbenen L. Philippona (mit dem Schriftstellernamen Multapatior) gestiftet. Die Entstehung und unzweifelhaft bedeutende Wirksamkeit des jüngeren Vereins ist an sich schon ein vollgültiger Beweis dafür, daß der ältere seiner großen Aufgabe nicht genügte. In dem jüngeren Verein lebt aber auch eine andere Auflassung von der Sache. Hierüber spricht der gegenwärtige Präsident des „Volksbundes“, Goeman-Borgesius, sich in einer Schrift über das neue niederländische Trunksuchtsgesetz von 1881 in folgender bemerkenswerter Weise aus:
„Man darf unsern ‚Volksbund‘ nicht mit der alten Abschaffungsgsellschaft zusammenwerfen. Wir haben alle Achtung vor der Ueberzeugungskraft der Männer, die auf ihre Fahne das kühne Wort ‚Abschaffung‘ geschrieben haben: wir bewundern den Muth und die Beharrlichkeit ihres Streitens. Aber unser Bund sieht seine Aufgabe anders an. Die alte Gesellschaft fordert von Allen, die ihr beitreten, daß sie keinerlei starke Getränke genießen oder ausschenken. Der ‚Volksbund‘ ist nicht so exclusiv; er öffnet seine Thüren weit für Alle, welche mit ihm kämpfen wollen gegen den gemeinschaftlichen Feind, d. h. den Mißbrauch berauschender Getränke.“
Ganz ähnlich wird wohl die „Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Trunksucht“, zu deren Gründung sich unlängst in Frankfurt am Main eine bedeutende Anzahl Volks- und Vaterlandsfreunde aus allen Theilen Deutschlands, aus den verschiedensten Ständen und Parteien verbunden hat, zu den hier und da noch vorhandenen alten Enthaltsamkeitsvereinen stehen. Sie will nicht ausrotten, sondern vernünftig beschränken. Sie steckt sich kein im Ganzen unerreichbares Ziel, braucht sich aber deshalb auch nicht zu begnügen, es nur bei verschwindend wenigen Individuen zu erreichen. Sie predigt Mäßigung in dem alltäglichen Genuß eines so starken Giftes, wie der Alkohol ist, nicht unbedingte Enthaltsamkeit. Darum wird sie schwerlich mit jenen Excessen des Temperanz-Fanatismus sympathisiren, welche in den Vereinigten Staaten von Amerika von betenden und singenden Weibern gegen vielleicht sehr achtbare, ihrem Erwerb nachgehende Schenkwirthe verübt worden sind, oder welche sich gegen den gewohnten mäßigen Lagerbiergenuß und fröhlichen Liedergesang unserer ausgewanderten Landsleute richten; auf keinen Fall wird sie an die Uebertragung solcher Vorgänge auf unsern Boden denken. Aber was in europäischen Ländern anscheinend mit Erfolg neuerdings gegen das volksverderbliche Uebermaß des Trinkens unternommen worden ist, das wird sie zur öffentlichen Prüfung bringen; sie wird erwägen, ob und mit welchen Abänderungen oder unter welchen Bedingungen es sich auf unser deutsches Volksleben anwenden lasse.
Da steht nun neben anderem im Vordergrunde der Betrachtung das vielgenannte, aber noch wenig genau bekannte Gothenburger System. Unter diesem Titel geht jetzt durch die vorwärtsstrebende Welt von Mund zu Mund eine gewisse Regelung des Schänkenwesens. Seinen Ursprung hat das Gothenburger System in einer Untersuchung der Armuthsursachen, wie das Deutsche Reich sie im Herbst 1881 angestellt hat; sein Urheber war ein Zeitungsherausgeber.
Sven Adolf Hedlund, der Herausgeber jener Gothenburger Handels- und Schifffahrtszeitung, welche 1870 bis 1871 im skandinavischen Norden fast allein stand mit einer unbefangeneren Würdigung unseres Krieges gegen die Franzosen, beantragte am 31. Mai 1864 in der Stadtverordnetenversammlung zu Gothenburg, einen Ausschuß mit der Untersuchung der Gründe des wachsenden Elends in der Stadt und mit Vorschlägen zu der Hebung desselben zu beauftragen. Der Ausschuß, welchem Hedlund selbst angehörte, schlug zweierlei vor: eine neue Ordnung des Branntweinschanks und den Bau von Arbeiterwohnungen. In dem die erstere Maßregel begründenden Bericht vom April 1865 sagte der Ausschuß, der Branntwein sei ihm in den traurigen Zuständen, die er zu untersuchen gehabt habe, auf Schritt und Tritt entgegengetreten. Eine Menge Tatsachen, darunter viele von ergreifender Art, hätten ihm bis zum Ueberfluß die Wahrheit der alten Behauptung von Predigern, Aerzten, Richtern und Menschenfreunden bestätigt, daß die Trunksucht in ihrer schauerlichen Macht früher oder später unerbittlich ihre Opfer in’s Verderben führe, „indem sie die Seelenkräfte schwächt und das Rechtsgefühl abstumpft, die Gesundheit und Kraft des Körpers untergräbt, Gleichgültigkeit gegen die häuslichen Pflichten und die Interessen der Familie groß zieht und dadurch selbst in den sonst besten Häusern Kaltsinn und Unfrieden zwischen den Gatten, schlechte Kindererziehung, Unordnung, Verfall der Wirthschaft und zuletzt allgemeines Elend hervorbringt“.
Einen solchen Feind zu überwinden, der Armuth, Noth und Verbrechen zugleich im Gefolge habe, möge ein Gemeinwesen wohl alle seine Kräfte und Mittel aufbieten. Der Grund des Branntweingenusses sei ohne Zweifel nicht allein rohe, sinnliche Genußsucht, auch starke äußere Ursachen trieben zu ihm hin.
„Die gefährliche Eigenschaft des Branntweins, daß er, wenn auch nur für kurze Zeit, den frierenden und mangelhaft bekleideten Menschenkörper erwärmt, das quälende Hungergefühl stillt, die gesunkene Kraft zu neuen Leistungen aufstachelt, betrachtet der unter Entbehrungen und Anstrengungen lebende Arbeiter als Beweis seiner Nützlichkeit und Vortrefflichkeit, als Grund, ihn erst mäßig, dann vermöge einer verhängnißvollen inneren Nothwendigkeit immer unmäßiger zu verbrauchen.“
Was der Ausschuß der Stadtverordneten-Versammlung nun gegen dieses öffentliche Uebel vorschlug, stützte sich auf die schwedische Branntweingesetzgebung vom 15. Januar 1855. Durch diese wurde das Brennen zum Hausbedarf, das in Schweden während der ersten Hälfte des Jahrhunderts einen ungeheuren Umfang angenommen und das Trinken zum allgemeinen Volkslaster gemacht hatte, unterdrückt; nur Fabrik-Brennereien mit Dampfkraft blieben zugelassen, und diese wurden außerdem noch höher besteuert, sowie ihre Betriebe auf einen Theil des Jahres beschränkt. Während der Großhandel mit Branntwein frei blieb, wurde der Kleinhandel ganz abhängig gemacht von der Entscheidung der Communen, die ihn zulassen oder ganz verbieten, beschränken, regeln konnten, wie sie wollten, nur mit Vorbehalt der Genehmigung des sie beaufsichtigenden königlichen Beamten.
Diese durchgreifende Maßregel half auf dem Lande allem Unheil ab. Während sonst fast jedes einzeln belegene Gehöft zugleich ein Krug war, besaßen die schwedischen Landgemeinden im Jahre nach der neuen Gesetzgebung zusammen nur noch 64 Schnapsläden, 493 Schankberechtigungen für längere Zeit und 132 für weniger als ein Jahr. Man rechnet, daß gegenwärtig bei einer Durchschnittsbevölkerung von wenig über 500 Einwohner auf die Geviertmeile in Schweden nur noch auf je 10,500 Seelen eine Schänke und auf je 25,000 ein Schnapsladen kommt.
Aber was den Dörfern und Weilern geholfen hatte, mehrte zum Theil noch die Belastung der Städte; denn in ihre Mauern flüchteten die branntweingierigen Landbewohner und halfen ihre Kneipen füllen. So kamen in dem Jahre 1855/56 auf das in den Städten wohnende Achtel der Gesammtbevölkerung Schwedens nicht weniger als 1912 Schänken und Schnapsläden gegen die 689 des offenen Landes. Unter den bestraften Trunkenheitsfällen in Gothenburg befanden sich stets vergleichsweise viele Leute vom Lande.
Immerhin litt direct die unbemittelte städtische Bevölkerung, indirect auch die bemittelte bei weitem mehr von den fortbestehenden üblen Wirkungen des hergebrachten Schänkenwesens, als das Landvolk im Ganzen.
Um also dem Mechanismus erst rechte Triebkraft zu leihen, war hier noch ein Rad einzuschieben, und dieses wurde in Gothenburg erfunden. Es hieß „gemeinnützige Actiengesellschaft“ – ein uns zuerst etwas befremdender Name und Begriff, den wir aber bald verstehen und würdigen lernen, wenn wir uns seine Gothenburger Wirklichkeit näher ansehen.
Mit rund 60,000 Einwohnern besaß die Stadt damals 60 Schankstellen. 40 derselben waren theils nur auf Jahresfrist zugelassen; theils verfiel ihre Berechtigung im Herbste jenes Jahres 1865 und wäre dann neu zu versteigern gewesen. Diese zunächst verfügbaren 40 Schankberechtigungen empfahl der Ausschuß der Stadtverordneten-Versammlung einer Gesellschaft zu übertragen, welche sie nicht des Erwerbes halber, sondern aus Gemeinsinn an sich nehmen und benutzen würde. Sie sollte verpflichtet sein, für gesunde, helle und geräumige Locale zu sorgen, die geeignet wären,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_078.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2023)