Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
|
Es könnte einem in Folge langjähriger Mißhandlung seiner Füße durch ungeschickte Schuster Verbitterten zu gut gehalten werden, wenn er sich Gedanken darüber machte, warum, wo es sich um so viele Leidensgenossen, um eine wahre Volkscalamität handelt, nicht schon von Reichsgesundheitsamtswegen gegen den gemeinschädlichen Gewerbebetrieb der bisherigen Schuster vorgegangen wird. Einem biedern Schwaben aber, welcher alljährlich von Staatswegen eine Aufforderung an die Hufschmiede des Landes zur Betheiligung an Fortbildungskursen in der Hufbeschlagkunst ergehen sieht, könnte es passiren, daß er sich fragte, ob denn das liebe Vieh und seine Locomotionsapparate mehr werth seien, als die der viel zahlreicheren fußkranken Menschen, für deren Wohl Niemand sorgt. Es nimmt sich gar sonderbar aus, wenn in der modernen Zeit, welche mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts strebt, welche mit allen Mitteln der Technik auf die Verbesserung und Beschleunigung des Massentransportes zu Wasser wie zu Land, und was damit zusammenhängt, hinarbeitet, wo das Fliegen nur noch eine Zeitfrage ist, – die ursprünglichste, ureigenste, immer doch unentbehrlichste Locomotion des Einzelnen mit Schusters Rappen, deren weder Hoch noch Niedrig jemals wird entrathen können, noch so sehr im Argen liegt, wenn im alten Schlendrian fortgeschustert und fortgewirthschaftet wird und kaum Jemand Beschwerden und Klagen über seine Locomotionsapparate erspart bleiben und auch nur erträglich gute Füße überall zu den Ausnahmen gehören. Und wer
jene Monumentalbauten, die großartig ausgestatteten polytechnischen Anstalten, Kunstgewerbe-, Baugewerkeschulen und dergleichen Kostbarkeiten der Großstädte, welche verhältnißmäßig wenig Leuten, und meist nur Städten und Städtern, zu gute kommen, sieht und sich daneben erinnert, wie etwa jeder hundertste Mensch ein Schuster ist, für dessen Ausbildung man diesen bis heute lediglich selber sorgen läßt, – der gelangt leicht zu illoyalen Anwandelungen, eine Vergleichung anzustellen zwischen Schooßkindern und Stiefkindern des Staates, und er fände wohl kaum ein Arges oder einen Luxus darin, wenn im Gesammtinteresse Jedermanns, von Alt und Jung, in Stadt und Land, auch für die Heranziehung eines auf der Höhe der Zeit stehenden Schusterstandes von der Gesammtheit etwas geschähe.“
Soll aber diese Reform wirklich durchgreifend wirken, so muß auch das große Publicum seine bisherigen verschrobenen Ansichten über Schuh und Stiefel ändern und von der Narrethei des „kleinen und schönen“ Fußes zu der Würdigung und Schätzung des „gesunden“ Fußes Umkehr halten. Wir beabsichtigen zu dieser Bekehrung nach Kräften beizutragen und in einem zweiten illustrirten Artikel die Frage von diesem Standpunkte aus zu beleuchten.
Karl Chop, einer der ältesten Mitarbeiter der „Gartenlaube“, ist durch seinen Tod der erste Verlust unseres Blattes im neuen Jahre geworden. Chop gehörte zu der nicht geringen Zahl geist- und kenntnißreicher Menschen in Deutschland, deren Wirken sich vorzugsweise auf engere Grenzen, namentlich auf ihr Heimathsgebiet beschränkt, und denen, weil sie abseits von den großen Preßerzeugniß-Märkten wohnen, die Gelegenheit, ihre Namen so oft wie möglich dem Publicum in Erinnerung zu bringen, abgeht, oder denen es widerstreben würde, selbst von der reichlichst dargebotenen Gebrauch zu machen. Diese Stillen im Lande sind ein großer Schatz für die Verbreitung der Volksbildung, welche in der Regel ihre liebste Sorge ist und der sie die Berühmtheit in weiteren Kreisen zum Opfer bringen, während auf den genannten Literatur-Märkten gar manche Mittelmäßigkeiten von freundschaftlicher Hand in brillirendes Licht gestellt werden, freilich auch nicht länger als bis Freundschaft und Licht mit einander ausgehen.
Karl Chop ist am 2. März 1825 in Sondershausen, der Residenzstadt der Schwarzburgischen Unterherrschaft, geboren, wo sein Vater Staatsminister war. Nach gründlicher Vorbildung studirte er in Leipzig in den wissenschaftlich und politisch steigend erregten Jahren von 1845 bis 1848 die Rechtswissenschaft, lebte dann in seiner Vaterstadt als Rechtsanwalt und widmete seine freie Zeit den schon auf der Universität gepflegten naturwissenschaftlichen, literarhistorischen und philosophischen Studien. Diesen Gebieten sind auch die schriftstellerischen Arbeiten entsprossen, mit denen er von Zeit zu Zeit in die Oeffentlichkeit trat, und es ist ein Zeugniß für den Werth derselben, daß Ernst Keil sehr bald auf ihn aufmerksam wurde und ihm die „Gartenlaube“ öffnete. Außer Novellen, deren Stoffe seinem Berufs- und seinem geschichtlichen Studien- und Erfahrungskreise, der Rechtspflege und dem patriarchalischen Staate, entnommen waren, hat er mit Vorliebe seine naturwissenschaftlichen Beobachtungen in volksverständlicher Weise mitgetheilt, aber auch selbstständige Schriften erscheinen lassen, von denen am bekanntesten sind: „Professor Schmidtchens Abenteuer“ und „Mein Vetter, der Graf“, eine Stadt- und Hofgeschichte. Ebenso war er ein fleißiger Mitarbeiter und zuletzt auch Mitredacteur des „Thüringer Hausfreundes“, in welchem er manche treffliche Frucht seiner Volkskenntniß und seines gesunden Humors niederlegte. Daß er seine Naturstudien auch praktisch zu verwenden vermochte, beweist seine Stellung als Vorstand der meteorologischen Station in Sondershausen. Von den vielen kleineren Schriften und Aufsätzen Karl Chop’s verdient nicht Weniges der Vergessenheit durch eine Sammlung derselben entrissen zu werden, damit der einst so stille Mann mit seinem Geist da fortlebe, wo er so gern gewirkt hat.
Der Leichenzug des Gideon Hosenstoß. Man schreibt uns aus Herisau in der Schweiz (Canton Appenzell): Alljährlich am Aschermittwoch findet in unserem Wohnorte der Leichenzug des „Gideon Hosenstoß“ statt, ein Gebrauch, wie er in gleicher origineller Form wohl nirgends sonst gefunden werden dürfte. – Unsere gesammte Schuljugend wird durch dieses Ereigniß stets in große Aufregung versetzt; denn schon am Morgen des betreffenden Tages laden Knaben im Alter von 12–14 Jahren, die jeweiligen Festordner, die jüngeren Kinder ein, recht zahlreich zum Leichengebete des „Gideon“ zu erscheinen, und kaum sind Abends 4 Uhr die Schulen geschlossen, so strömen fast alle Kinder des Ortes nach der Stelle, an welcher der Umzug seinen Anfang nimmt. Derselbe wird durch Knaben eröffnet, die als alte Weiber verkleidet und mit brennenden Laternen und langen Geißeln versehen sind. Sie eilen in grotesken Sprüngen dem Zuge voraus, um ihm den Weg frei zu machen. Ihnen folgt dann ein flacher Handwagen, auf welchem der Gideon, eine lebensgroß aus Stroh und alten Kleidern hergestellte Puppe, liegt; zwei Knaben besprengen dieselbe und die miteilenden Kinder mit Wasser, während Andere mit Pfannendeckeln, Trommeln und Pfeifen einen ohrzerreißenden Spektakel machen. Kleinere Knaben, meist verkleidet, figuriren als Leidtragende, und ihnen schließt sich ein langer Zug kleiner Mädchen an, welche, mit rothen, weißen und gelben Tüchern, bunten Bändern und Schleiern wunderlich aufgeputzt, die Pflicht haben, in die vorgehaltenen Hände zu weinen und möglichst laut zu klagen und zu jammern. Wer dies verabsäumt oder sich untersteht, die geordneten Reihen zu verlassen, wird von den hin- und hereilenden Zugführern mit Geißelhieben zum Gehorsam gebracht; alle unverkleideten Kinder aber werden mit drohendem Geschrei und geschwungenen Stöcken von der Theilnahme am Zuge abgehalten. So bewegt sich derselbe unter unaussprechlichem Lärm durch sämmtliche Straßen des Ortes, um schließlich zu seinem Ausgangspunkte zurückzukehren. Dort besteigt ein Knabe eine erhöhte Stelle und hält eine je nach der Begabung des Redners mehr oder minder witzige Ansprache; er giebt zuerst eine Lebensbeschreibung des Gideon Hosenstoß, wobei alle möglichen lächerlichen Untugenden und Situationen erwähnt werden; sodann folgt ein Verzeichniß seiner Hinterlassenschaft, in welcher papiernes Kochgeschirr, Gabeln und Kämme ohne Zinken und dergleichen Unsinn eine große Rolle spielen. –
Nach Schluß der Rede verläuft sich das Publicum, der Gideon aber wird in irgend einem Holzstall verwahrt bis zum nächsten Sonntag, wo er in einem der auf allen Höhen leuchtenden „Funken“ oder Freudenfeuer den Flammentod findet.
Dieses Zugrabetragen des Faschings – denn so kann der Umzug wohl gedeutet werden – ist vermuthlich nur die veränderte Form einer alten heidnischen Feier, und da die Appenzeller als ein zäh am Althergebrachten, Gewohnten festhaltendes Volk bekannt sind, hat sich das Fest jedenfalls in ziemlich ursprünglicher Weise erhalten.
K. G. in Berlin. Das ergreifende Gedicht von Emil Rittershaus „Für die Nothleidenden am Rhein“ ist von der Jul. Taddel’schen Buchhandlung in Barmen zu beziehen. Einzelne Exemplare kosten 25 Pfennig, 50 Exemplare 10 Mark und 100 Exemplare 15 Mark. Da der ganze Ertrag für die armen Ueberschwemmten am Rhein bestimmt ist, so ist ein Nachdruck des Gedichtes in öffentlichen Blättern nicht gestattet.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_056.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2023)