Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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jetzt ist es unmöglich, auch nur annähernd die Höhe des Gesammtschadens in runder Summe anzugeben; man spricht von wenigstens zehn bis zwölf Millionen Mark, aber noch gegen Ende December, wo diese Zeilen in Druck gehen[1], laufen immer neue Reclamationen ein, sodaß die amtlichen Sitzungsberichte der Sachverständigen noch nicht vorliegen.
Mittlerweile verfolgt die Privatthätigkeit mit immer neuen und von den günstigsten Erfolgen gekrönten Anstrengungen ihr edles Ziel. Theatervorstellungen und Concerte zum Besten der Ueberschwemmten werden in allen größeren Städten gegeben; Bazare und Lotterien sind projectirt, und die Männergesangvereine, diese schöne Spezialität der Rheinlande, werden auch bald zu diesem Zwecke ihre kleinen Kunstreisen antreten. Man wird sie überall willkommen heißen.
So öffnen sich rings die Quellen des Wohlthuns, hier kleine Bäche, dort größere Zuflüsse, und alle zusammen vereinigen sich in dem großen Strom der opferfreudigen Nächstenliebe. O möchte auch dieser Strom aus seinen Ufern treten und zu einer Ueberschwemmung werden, aber zu einer Ueberschwemmung des Segens und des Heils! Wenn wir dann im nächsten Sommer den alten Vater Rhein wieder begrüßen, dem wir jetzt zürnen müssen und den wir doch so lieb haben, so werden uns die Bewohner doppelt herzlich entgegenkommen, und ihr Dank für das, was wir für sie in den Tagen großer Noth gethan, wird wie ein lichter Regenbogen nach einem schweren Gewitter über den herrlichen Bergen und Geländen stehen. Das walte Gott!
Kaum hatten wir diesen Artikel vollendet und eingesandt, als bedrohliche Anzeichen einer neuen Ueberschwemmung von allen Seiten laut wurden. Noch waren die Wasser der ersten furchtbaren Katastrophe nicht verlaufen; noch standen viele tausend Morgen Ackerland in Schmutz und Schlamm; noch waren die unzähligen Wohnungen in Städten und Dörfern kaum nothdürftig gereinigt und getrocknet und von den Bewohnern, die eben kein anderes Obdach hatten, wieder bezogen worden, als auf’s Neue der Nothschrei durch die Lande ging und alle Herzen mit wahrer Verzweiflung erfüllte.
Man schenkte anfangs den entsetzlichen Nachrichten aus dem Süden, namentlich aus dem Main- und Neckargebiete und aus dem ganzen badischen Oberlande, dessen zahlreiche Flüsse zu hochgehenden Strömen angeschwollen sein sollten, keinen vollen Glauben; sogar der Bodensee sollte so hoch stehen, wie kaum je seit Menschengedenken, aber nur zu bald ward man inne, daß jene Hiobsposten nicht nur nicht übertrieben waren, sondern noch vielfach hinter der grausigen Wirklichkeit zurückblieben. Schon wenige Tage später, und das ganze Rheinthal war von Neuem überfluthet; die neuen Wassermassen hatten nur zu schnell den Weg wieder gefunden, den ihnen diejenigen des vergangenen Monats so schrecklich gebahnt, und diesmal noch schneller und in den meisten Gegenden noch gefahrdrohender und verheerender. Der Hauptgrund hiervon lag in den vielen Dammbrüchen, welche diesmal weit häufiger eingetreten waren, als im November; denn die Dämme hatten damals zwar Widerstand geleistet, aber von dem gewaltigen Anprall der Fluthen so stark gelitten, daß sie einem nochmaligen erliegen mußten, und deshalb sind auch bei dieser zweiten Ueberschwemmung weit mehr Menschenleben zu beklagen. Die Lokalblätter wimmeln von herzerschütternden Einzelheiten. So haben bei einem Brückeneinsturz zu Lörrach 15 Menschen das Leben verloren, und aus gar vielen Ortschaften Badens, des Ober- und Niederrheins und der Rheinpfalz werden Todesfälle durch Ertrinken gemeldet.
Noch schrecklichere Nachrichten kommen aus Ludwigshafen: dort ist ein großer Kahn mit vierzig Insassen, die den Ueberschwemmten Lebensmittel bringen sollten, umgeschlagen, und nur fünf Personen wurden gerettet. In Frankenthal war eine fürchterliche Sylvesternacht: vier Dämme brachen fast zu gleicher Zeit und setzten das ganze Gebiet zwischen Ludwigshafen und Worms meterhoch unter Wasser. In den dortigen Ortschaften sind die Häuser buchstäblich zu hunderten eingestürzt, und mehrere tausend Obdachlose, die Alles, Alles verloren haben, mußten in Kirchen, Schullocalen und in den höher gelegenen Häusern untergebracht werden. Das Elend und die Noth dieser Unglücklichen entzieht sich jeder Beschreibung.
Auch ist das Ueberschwemmungsgebiet diesmal ein größeres als im November, und mithin die Noth der Heimgesuchten eine doppelte. Für viele tausend Familien, und natürlich vorwiegend der unteren, unbemittelten Classen, hat die diesjährige Weihnachtswoche nur Elend und Schrecken gebracht; das schöne Christfest, das Fest der Freude, der Kinderfreude zumal, wo auch in den ärmlichsten Hütten fast immer ein Lichterbäumchen schimmert, ist düster und freudlos vorübergezogen. Man dankte Gott, wenn man nur das eigene Leben und das der Seinigen vor den wilden Fluthen glücklich in Sicherheit gebracht hatte, und die ängstliche Sorge um das tägliche Brod und für die gesammte Existenz nahm alle übrigen Gedanken in Anspruch. Der schöne, in besseren Zeiten vieltausendfach erklingende Wunsch vergnügter Feiertage und der nicht minder schöne eines glückseligen Neujahrs wäre für all die Unglücklichen bittere Ironie gewesen, und auch die Begüterten und verschont Gebliebenen konnten sich diesmal nicht so herzlich und unbefangen freuen, wie sonst; denn auch auf ihnen lastete die entsetzliche Calamität, wie der wolkenschwere Himmel, der gerade in der Festwoche fast überall und fast ununterbrochen seine Regenmassen herabsandte. Nur in dem einen Gedanken begegneten sich Alle: zu helfen und zu lindern, so viel und so weitgehend man nur irgend konnte. Die Aufrufe schilderten von Neuem und noch eindringlicher als zuvor die allgemeine Noth; von Neuem flossen und fließen die Gaben und Beiträge, und die öffentlichen Behörden und die unzähligen Privatvereine wetteifern in der Erfüllung der ihnen obliegenden schönen Pflichten zur Unterstützung ihrer leidenden Mitmenschen. Mit Gottes Hülfe wird es schon gelingen, dem augenblicklichen und größten Elend zu steuern; das Weitere wird dann freilich der staatlichen Fürsorge überlassen bleiben; denn hier ruft eine Noth des Vaterlandes um Hülfe und hat das Reich die Hand zu erheben, um die schrecklichen Wunden zu heilen, die ein hartes Geschick den schönen Rheinlanden jetzt
zweimal geschlagen.
- ↑ Die Veröffentlichung derselben mußte wegen der anzufertigenden
Illustrationen hinausgeschoben werden. Von den lebenstreuen an Ort
und Stelle aufgenommenen Bildern erfordern einige eine nähere Erklärung. Es war nämlich ein guter Gedanke unseres Künstlers, uns
die furchtbare Hochfluth des November nicht in den das Land überströmenden Wasserflächen der freien Natur darzustellen, sondern uns in
einer Bilderreihe die Wandelungen zur Anschauung zu bringen, in
welche plötzlich das Leben der Menschen in einem vom Wasser überfallenen
Gemeinwesen umgestaltet wird. Er wählte dazu Mainz, das ihm
nicht blos ein großes Gemeinwesen, sondern auch die Ueberschwemmung
im höchsten Grade darbot; denn dort quoll das Wasser schon übermächtig
aus der Erde hervor, ehe noch der Rhein seine Fluthen in die Stadt
warf. F. Lindner hatte keine leichte Arbeit, es galt da nicht, Skizzen
am Fenster zu entwerfen; er mußte sich in allen Ecken und Winkeln des
Ueberschwemmungsgebietes selbst herumtreiben, an Pontoniere, Schutzmannschaft,
Feuerwehren u. dergl. sich anschließen, um den rechten Stoff
zusammenzufinden. Was wir davon unseren Lesern mittheilen, können
wir zu leichterer Uebersicht classificiren. Vor Allem mußte der Verkehr
in den Straßen möglich gemacht werden. So weit dies angeht, stellt
man die Straßenverbindung durch Bretter auf fester Balkenunterstützung
her. Es sind Eilbauten, deren Beschreibung auch zu manchen heiteren
Scenen führt. An Kreuzungspunkten, von denen unsere Illustration uns
eine zeigt, hilft ein Schutzmann den Aengstlichen vorüber; der Schlauch,
den wir unter der Bretterlage hinlaufen sehen, gehört zur Wasserleitung.
– Das Zweitnöthigste bei solcher Erschwerung, ja oft Absperrung des
Verkehrs ist die Beischaffung von Nahrungsmitteln. Unser Künstler zeigt
uns, wie die Feuerwehr sich um die Wasserversorgung der überschwemmten
Straßen verdient macht; in derselben Weise führt man auch andere
Lebensmittel aus Fahrzeugen aller Art herbei, die dann mittelst Seilen
in Körben, Eimern oder Säcken, ja nach der Art der Waare, von den
Bewohnern in die höheren Stockwerke emporgezogen werden. In ähnlicher
Weise sorgt die Reichspost für den ununterbrochenen Fortgang des
geistigen Zusammenhangs der Menschheit auch über die Hochfluth der
Straßen und Gassen hin, nur daß der Fahrpostwagen dem Postkahne
Platz gemacht hat und der Postbote statt die Treppen im Innern die
Leitern am Aeußeren der Häuser zu ersteigen hat. Und selbst den letzten
Gang des Menschen hält die Wasserfluth nicht auf: auch der Sarg findet
seine Stätte im Kahne, wohin der Wagen ihn nicht befördern kann. Unheimlich
erleuchtet die Pechflamme das stille Gewässer, aus welchem der
Begräbnißzug dahinschwimmt, bis er landen muß und der Todte endlich
doch zu dem Häuflein Erde kommt, von dem man wünscht, daß es leicht
sei. – So hat F. Lindner uns an verschiedene Stellen von Mainz geführt;
wenn wir dieselben Straßen wiedersehen, den Fuß auf trockenen
Steinen, so wird das Bild der Fluth uns wie ein Märchentraum erscheinen,
und doch ist sie eine so ernste, für Hunderttausende an den deutschen
Strömen so furchtbare Wahrheit gewesen.
D. Red.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_054.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)