Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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an höher gelegenen Orten; auch findet man stets bereitwillige Hülfe bei den weniger bedrohten Einwohnern; denn das gemeinsame Unglück nähert die Menschen und öffnet die Herzen. Im zweiten Falle dagegen tritt die Katastrophe urplötzlich ein: der Damm zerreißt; die bis dahin hochaufgestauten Gewässer brechen wie Meeresfluthen herein, und zehn, zwanzig Minuten genügen, um die niedrig gelegenen Ortschaften, denen eben der Damm Schutz gewähren sollte, in einen weiten tiefen See zu verwandeln. Da gilt es, in wilder Hast nur das nackte Leben zu retten und Hab und Gut im Stiche zu lassen; auch von gegenseitiger Hülfe ist kaum mehr die Rede; denn Jeder denkt nur an sich und an die Seinigen und der Bauer höchstens noch an sein Vieh, seinen größten und oft einzigen Reichthum, und auch das muß in vielen Fällen geopfert werden. Im Ganzen haben während der Novemberkatastrophe allein im Rheingebiete fünf solcher Deichbrüche stattgefunden, von denen zwei geradezu unerhörte Calamitäten herbeiführten: der eine in der Niederung bei Worringen zwischen Köln und Neuß und der andere bei Niehl in der Nähe von Köln.
Der bei Worringen war wohl der grauenvollste von allen: am 27. November war die ganze gesegnete Landschaft in ein einziges, über eine Quadratmeile großes Meer verwandelt, aus welchem die Baumgipfel und Dörfer hervorragten; lebendes und todtes Vieh treibt auf den Fluthen, dazwischen die auf den Feldern losgeschwemmten Fruchtbarmen, ebenso Ackergeräthe und unzähliger Hausrath aller Art, zertrümmert und verloren und den Winden und Wellen preisgegeben, Balken, Bretter und leere schaukelnde Fässer, auch wohl ein mit Menschen überfüllter Nachen, Männer, Frauen und Kinder, in allen Augen Thränen, auf allen Gesichtern bleiches Entsetzen; dazu das Läuten der Sturmglocken von den Kirchthürmen (die Kirchen selbst vielfach vom Wasser erreicht) und ein dunkler, bleischwerer Himmel wie ein Leichentuch über dem Fluthengrabe. Auf einer Anhöhe in der Ferne stehen andere Menschen, die bereits gerettet sind und die mit wehenden Tüchern ihren Leidensgefährten zuwinken. Das ist ein, wenn auch nur flüchtig skizzirtes Jammerbild unter vielen hundert ähnlichen.
Am 29. November gegen Abend hatten die Fluthen des Rheins ihren Höhepunkt erreicht, zugleich den höchsten in diesem Jahrhundert: nun endlich standen die Wasser und die geängstete Bevölkerung, so schwer sie auch getroffen war, schöpfte Hoffnung und frischen Muth. Die Verheerung war freilich fürchterlich und spottet jeder Beschreibung. Wer beispielsweise von irgend einer Höhe des Siebengebirges, oder weiter hinauf, etwa vom Schlosse Stolzenfels, wo auf dem rechten Ufer die Lahn und auf dem linken die Mosel in den Rhein mündet, in die Thalebene hinabschaute, erkannte die Gegend nicht mehr; denn eine unabsehbare Wasserfläche, ein Ocean war an die Stelle der weitgedehnten Felder und Fluren getreten, und manche kleinere Ortschaft war so gut wie ganz verschwunden. Coblenz und Neuwied hatten furchtbar gelitten, nicht minder Sanct Goar, Rüdesheim und Bingen – doch wollten wir hier die einzelnen Städte nennen, so könnten wir nur nach der Rheinkarte bei Mainz anfangen, um bei Düsseldorf aufzuhören. Nur das ist wohl mit Sicherheit anzunehmen, daß die Städte und mehr noch die Flachlande des Niederrheins von Bonn über Köln bis Düsseldorf am schwersten heimgesucht wurden, was sich schon dadurch erklärt, daß hier der Strom völlig und ganz in die Ebene tritt und seine Wassermassen zu beiden Seiten stundenweit abgeben kann, bevor er nach Emmerich, der letzten preußischen Stadt an der holländischen Grenze, gelangt. Deshalb ist auch bei Emmerich die Ueberschwemmung nur unbedeutend gewesen und das holländische Rheingebiet ist so gut wie ganz verschont geblieben.[1]
Nach dem banalen Volksworte, daß jedes große Unglück gewöhnlich auch von einem großen Glücke begleitet ist, wird bei der Wassersnoth im November als Trost hervorgehoben, daß während der Schreckenstage kein Sturm gewüthet hat, was die Noth und Gefahr natürlich noch gesteigert haben würde. Dies ist allerdings nicht zu leugnen, aber es ist doch, angesichts des entsetzlichen Elends, nur ein leidiger Trost. Und ein Umstand kommt hinzu, der diese Ueberschwemmung zu der schlimmsten und folgenschwersten von allen macht, der nämlich, daß sie im Spätherbst, also dicht vor Anfang des Winters stattgefunden hat, wohingegen alle vorhergehenden stets im Frühjahr eintraten. Der Grund davon liegt auf der Hand. Im Herbst sind alle Feldfrüchte eingeheimst, desgleichen die Vorräthe an Gemüsen, in erster Reihe Kartoffeln, Rüben und Kohl, ebenso der Feuerungsbedarf, kurz alles Nöthige, um den Unbilden der kalten und bösen Jahreszeit zu begegnen.
Das Alles ist jetzt zum größten Theil und in vielen Ortschaften gänzlich verdorben und verloren, und die wirkliche Noth, das heißt die Sorge um das tägliche Brod, ist bei tausend Familien eingezogen. Dies gilt hauptsächlich von der Landbevölkerung und überhaupt von den „kleinen Leuten“, die mit Angst und Zagen dem nahen Winter entgegen gehen. Die letzte Ernte war überdies nur eine sehr mittelmäßige, und der Ertrag des Weinbaues schon seit mehreren Jahren ein kläglicher. Nun noch die weithin überschwemmten Kornfelder, wo die Wintersaat überall und vielfach sogar die „Ackerkrume“ zerstört ist, und wo die Neubestellung doppelte und dreifache Arbeit kostet! Auch sind die Wohnungen auf dem Lande größtentheils weniger gut und solid gebaut als in den Städten, und hunderte kleiner Bauernhäuser sind eingestürzt oder doch völlig unbewohnbar – Alles trostlose, beklagenswerthe Zustände, wo rasche, durchgreifende und weitumfassende Hülfe dringend geboten ist.
Daß wir aber auch nur gleich hinzusetzen: viel, unendlich viel ist geschehen und geschieht noch täglich nach allen, allen Richtungen hin zur Linderung, sowohl der augenblicklichen Noth, wie auch in Fürsorge der nächsten Zukunft. Und das ist die schöne und herzerfreuende Lichtseite unserer sonst so betrübenden Schilderung. Manchmal scheint es wirklich, als ob die Vorsehung in ihren unergründlichen Rathschlüssen große Calamitäten in Form schrecklicher Naturereignisse über ganze Länderstrecken verhänge, um den Menschen Gelegenheit zu geben, sich von ihrer edelsten und schönsten Seite zu zeigen: in den Werken christlicher Nächstenliebe. Das war hier der Fall.
Schon in den ersten Tagen der Ueberschwemmung waren hülfreiche Arme in Menge bereit, als aber die Wasser wuchsen und wuchsen, als Noth und Gefahr immer größer wurden mit jedem Tage, zuletzt mit jeder Stunde, da stand die verschont gebliebene Hälfte der Bevölkerung auf wie Ein Mann und bot der heimgesuchten Hälfte die rettende Bruderhand. Die Localbehörden waren überall so gut wie in Permanenz; denn der Nothbrücken- und Nachendienst mußte auf das schleunigste hergestellt werden, um wenigstens das Leben der bedrohten Menschen zu retten, wenn sonst nichts mehr zu retten war. Herzerschütternde Scenen sind dabei vielfach vorgekommen, so in Köln und in Coblenz, wo Wöchnerinnen aus dem dritten Stockwerk herabgelassen und Kranke und Gebrechliche in ähnlicher Weise geborgen werden mußten.
Wir könnten lange Seiten füllen mit Aufzählung derartiger Einzelnheiten, und dabei sind wohl nur die wenigsten derselben in die Oeffentlichkeit gedrungen. Auch an Handlungen hochherziger Selbstaufopferung hat es nicht gefehlt. Unerschrockene Männer retteten mit Gefahr ihres eigenen Lebens hülflose Frauen und Kinder, namentlich bei den Dammbrüchen, wo die wasserkundigen Rheinschiffer sofort große Flöße gezimmert hatten und ganze Familien mit ihren schnell zusammengerafften Habseligkeiten aufnahmen und in Sicherheit brachten.
Leider ist auch der Verlust manches Menschenlebens zu beklagen, wenngleich die bisjetzt bekannt gewordene Zahl der Opfer im Verhältniß zu der außerordentlich großen Ausdehnung der Ueberschwemmung Gottlob nur eine geringe ist. Ein entsetzlicher Unglücksfall ereignete sich in Offenbach bei Frankfurt, wo ein altes baufälliges Haus so plötzlich von den Fluthen ergriffen wurde, daß man in der Hast drei Kinder von zwei, sechs und acht Jahren vergessen hatte. Die Mutter, die ihre Kinder schon gerettet glaubt, eilt zurück, aber die treue Dienstmagd drängt sich vor, arbeitet sich durch das Wasser wieder in das Haus hinein und gelangt auch in das obere Stockwerk zu den Kindern. In demselben Augenblicke stürzt das Gebäude mit furchtbarem Krachen zusammen und begräbt die Unglücklichen in den Trümmern. Alle Rettungsversuche waren vergebens; denn die Straße war zu einem reißenden Strom geworden. Erst am Abend des nächsten Tages gelang es, die vier Leichen unter dem Schutt hervorzuholen. Die Magd hielt das kleinste Kind noch in den Armen. Man denke sich den Schmerz der Eltern!
- ↑ Bekanntlich theilt sich der Rhein unterhalb Emmerich in zwei Arme, von denen der linke sich mit der Maas vereinigt und in die Nordsee fällt. Der rechte theilt sich dann wieder in mehrere größere und kleinere Arme und führt seine Hauptmase der Zuydersee zu.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_051.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)