Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Zugbrücken senken sich an rasselnden Ketten herab, und eine schimmernde Cavalcade zieht in’s Thal hinunter nach irgend einer rheinischen Stadt zu Festspiel und Turnier.
Die Zeiten sind längst dahin; denn die Burgen sind zerfallen, aber freundliche Legenden und Sagen umschweben sie in Wahrheit und Dichtung; der herrliche Strom jedoch ist derselbe geblieben, und seine Ufer und Gelände sind im Laufe der Jahrhunderte immer schöner geworden. Zu den alten Städten gesellten sich neue; unscheinbare Weiler wurden nach und nach zu blühenden Dörfern und zu stattlichen Markflecken, und immer höher stieg die fleißige Hand der Menschen an den Bergen und Felsen empor, um ihnen fruchtbares Erdreich für den Wein- und Feldbau abzugewinnen. Handel und Gewerbe blühten bis in die kleinsten Ortschaften, und der Verkehr auf Eisenbahnen und Dampfschiffen wuchs nach und nach zu einer Bedeutung, wie kaum anderswo in Deutschland.
Der unendliche Liebreiz der Gegend kam hinzu, den Rhein weit und breit berühmt zu machen, sodaß er längst für alle Reisenden und Touristen Europas ein Hauptmagnet geworden, und wenn sie auch Schottland oder Norwegen, die Schweiz oder Italien besucht hatten und durch die prächtigen landschaftlichen Bilder jener Länder fast übersättigt waren an Naturgenüssen: den Rhein begrüßten sie mit stets neuer Freude, und vom Rheine wurde ihnen stets die Trennung am schwersten. Die sympathische Bevölkerung der Rheinlande hatte unleugbar großen Antheil daran:
„Die Frauen so frank und die Männer so frei,
Als wär’ es ein adlig Geschlecht;
Gleich bist Du mit glühender Seele dabei –
So dünkt es Dich billig und recht.“
Und dazu der Gesang und der Wein! Denn wenn schon Deutschland vor allen übrigen Ländern berühmt ist durch Musik und Gesang, so gebührt den Rheinlanden von diesem Ruhm die Krone, und wie das Gold das edelste und kostbarste unter allen Metallen, so ist auch der goldene Rheinwein der König unter den Weinen, und deshalb segnet auch der große Kaiser Karl alljährlich im Lenz die Reben am Rhein.
Unvergeßlich ist gewiß Jedem, dem sie vergönnt gewesen, die Erinnerung einer Rheinfahrt an einem schönen Sommertage mit befreundeten Genossen. Hier langgedehnte, bewaldete Höhenzüge, dort senkrecht gen Himmel ragende Felsmassen, dann bei einer Biegung des Stromes unabsehbare auf- und niedersteigende Rebengelände, und wo die Berge einen Durchblick in die Ebene gestatten, gleich unabsehbare Kornfelder und Wiesen, nach dem alten Volkswort: „Korn und Wein segnet der Rhein“. Städte und Ortschaften spiegeln sich in den klaren Wellen; elegante Landhäuser und stattliche Villen, oft wahre Fürstensitze, schauen überall hervor aus dem Grün, und in den sorgfältig gepflegten Gärten, die gern bis dicht an den Strom gehen, sind Grotten und Lusthäuschen erbaut, liebliche Ruhesitze zu einem Rundblick über das herrliche Panorama.
Und welch fleißige und rührige Bevölkerung! Jung und Alt, Vornehm und Gering in lebendiger Bewegung, Jeder in seinem Kreise wirkend nach Kraft und Vermögen, und Gruß und heiterer Zuruf von allen Seiten, wenn die bewimpelten Dampfschiffe vorüberziehen oder wenn die Reisenden in den schmucken Wirthshäusern einkehren! Gute, daseinsfrohe Menschen! Herrliches, gesegnetes Land! .
Und jetzt, welch eine Wandlung voll Grauen und Entsetzen! Von Mainz und weiter hinaus bis hinunter nach Düsseldorf und weiter hinab ist der schöne, friedliche Strom ein wild brausendes Meer geworden, dessen ungeheure Wassermassen dort, wo die Felsen des Bettes sie einengen, in furchtbarem Wirbel dahin schießen, Alles mit sich fortreißend, was in ihren Bereich kommt, und dort, wo die offenen Thäler einen Abfluß gestatten, alle Niederungen meilenweit überflutend.
Fast alljährlich und gewöhnlich im Frühjahr zur Zeit des Eisganges tritt freilich der Rhein aus seinen Ufern und setzt die tiefergelegenen Felder und Wiesen und auch einzelne Theile der allzu dicht am Strome liegenden Städte und Ortschaften unter Wasser, aber die Bevölkerung ist mit diesen im Allgemeinen nicht bedeutenden Fährlichkeiten längst vertraut und weiß sich dagegen genugsam zu schützen. Anders ist es schon mit den größeren wirklichen Ueberschwemmungen, die viel Noth und Gefahr bringen und durchschnittlich alle fünfzehn bis zwanzig Jahre eintreten, so in diesem Jahrhundert die von 1811, von 1845 und namentlich die von 1876. Die letztere ist noch überall in schrecklichem Andenken, und da nur wenige Jahre seitdem verflossen sind, so hatte man um so mehr Veranlassung, eine baldige Wiederkehr nicht zu befürchten.
Alte Leute erinnerten sich bei dieser Gelegenheit wohl der Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern, welche die furchtbare Wassersnoth von 1784 mitgemacht hatten, die größte und verderblichste seit vielen Jahrhunderten, und trösteten die ängstlich Zuhörenden mit der Versicherung, daß dergleichen eben nur alle hundert Jahre vorkäme, und das kaum.
Als daher gegen Mitte October dieses Jahres der Rhein in Folge der anhaltenden Regengüsse stark zu steigen und die Flachlande zu überschwemmen begann, blieb man guten Muthes, traf die nöthigen Vorkehrungen und athmete schon nach acht Tagen wieder auf; denn die Wasser sanken und die Gefahr schien beseitigt.
Aber dies war nur ein mattes, unbedeutendes Vorspiel zu dem furchtbaren Drama, das ein düsteres, unerbittliches Geschick über das schöne Land verhängte und das sich einen Monat später in so grauenhafter Weise verwirklichen sollte. Die letzte Novemberwoche 1882 wird in den Annalen der Rheinlande auf langehin mit Schreckensbuchstaben verzeichnet stehen – aus Millionen Herzen stieg der Wunsch empor: gebe Gott, auf Nimmerwiederkehr! (Und doch stehen wir heute, wo dieses gedruckt wird, vor der schrecklichsten Wiederkehr des steigenden Verderbens! Der Leser gestatte uns, zunächst jene Nothtage zu schildern, auf die jetzigen aber am Schluß zu kommen! D. Red.)
Nach langen trüben Schnee- und Regentagen kamen am 21. und 22. November in der unteren Rheingegend und speciell in Köln und Düsseldorf die beunruhigendsten Nachrichten vom Oberrhein, die das Schlimmste befürchten ließen, und am 25. begann die entsetzliche Katastrophe. Das war diesmal keine Ueberschwemmung, wie in früheren Jahren, kein langsames, wenn auch bedrohliches Steigen des Stromes, sondern ein fast plötzliches und jedenfalls unerhört schnelles Hereinbrechen ungeheuerer Wassermassen von allen Seiten, die in dem tiefen Rheinbette ihren Ausgang suchten und mit rasender Gewalt dahinstürmten. Die zahlreichen und in gewöhnlichen Zeiten meist harmlosen Nebenflüsse waren zu reißenden Strömen angeschwollen, vor allen die Mosel, die auch diesmal wieder, und schlimmer als je, ihren tückischen Charakter zeigte; denn sie stieg in kaum vierundzwanzig Stunden nicht fuß-, sondern meterweise, überfluthete dabei ihr eigenes Gebiet weitin nach allen Richtungen und führte trotzdem bei Coblenz dem Rheine ihre hochgehenden Wogen zu. Und Aehnliches meldete man von den nahen und fernen Flüssen des Südens, so namentlich vom Main und Neckar, und der Rhein selbst stieg dadurch zu einer seit Menschengedenken nicht dagewesenen Höhe. Die furchtbaren Naturkräfte waren entfesselt und begannen ihr grausiges, verderbenbringendes Spiel, und die Menschen schauten mit bewunderndem Entsetzen die tobenden Gewalten und fühlten verzweifelnd ihre Ohnmacht. Nicht als ob sie die Hände müßig in den Schooß gelegt hätten: im Gegentheile, tausend und aber tausend Hände waren ohne Aufhören thätig, von früh bis spät, und während der gefährlichen Periode auch die Nächte hindurch, vielfach von Erfolg gekrönt, aber leider noch weit häufiger vergeblich. Denn von sämmtlichen am Rheine gelegenen größeren und kleineren Städten, von allen Städtchen und Ortschaften bis zum letzten Dörfchen, und in einer Ausdehnung von mehr als fünfundzwanzig deutschen Meilen liefen immer neue Schreckensnachrichten ein und eine immer schrecklicher als die andere; man vernahm sie mit wehmüthiger Theilnahme, aber der eigene Herd schien fast Jedem am schlimmsten bedroht.
Um sich einigermaßen ein annähernd richtiges Bild dieser entsetzlichen Wassersnoth zu machen, sind durchaus zwei verschiedene Gesichtspunkte nöthig. Der eine ist das Anschwellen und Steigen des keinsten Baches wie des größten Stromes – stetig, unaufhaltsam und unerbittlich, höher und immer höher wälzen sich die Fluthen; der andere ist der plötzliche und gewaltsame Durchbruch der Deiche. Im ersteren Falle, wo man die Gefahr kommen und näher und näher rücken sieht, ist es möglich, die nöthigen Vorkehrungen zu treffen; man räumt die Keller und Parterrewohnungen und bezieht die
oberen Stockwerke, oder sucht, wo das nicht thunlich ist, ein Asyl
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_050.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)