Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Diese Gerüchte waren freilich meist so abenteuerlich, daß die Vernünftigen sie ohne Weiteres in das Reich der Fabel verwiesen und sich mit der Annahme begnügten, daß Raimund von Werdenfels ein ausgemachter Menschenfeind sei. Allerdings blieb kaum eine andere Erklärung übrig für die Hartnäckigkeit, mit der er sich jedem Umgange, ja sogar jeder zufälligen Begegnung entzog. Er war und blieb unsichtbar für die ganze Nachbarschaft, unzugänglich für seine Beamten, welche niemals direct mit ihm verkehrten; selbst seine eigene Dienerschaft, den Kammerdiener ausgenommen, bekam ihn nur höchst selten zu Gesicht. Er betrat niemals Werdenfels oder eines seiner anderen Güter und hatte um sein Felseneck einen förmlichen Bannkreis gezogen, der nicht zu durchbrechen war, so mancher Versuch auch in dieser Hinsicht gemacht wurde. Die Dienerschaft hatte strenge Befehle, die ebenso streng befolgt wurden. Das Schloß öffnete sich Keinem, der nicht durch den Schloßherrn selbst gerufen war.
Unter seinen Standesgenossen erregte diese Art zu leben ebenso viel Befremden wie Tadel. Man fand es unerhört, daß ein Mann, der durch seinen Namen und Reichthum, durch die Traditionen seiner Familie berufen war, eine der ersten Stellungen im Lande einzunehmen, auf jede Thätigkeit verzichtete und es sogar verschmähte, unter den Gutsbesitzern der Provinz, wo er weitaus der bedeutendste war, eine Rolle zu spielen. Man verzieh ihm nicht seine vollständige Gleichgültigkeit gegen alle Interessen und Vorgänge der Umgegend und empfand sein entschiedenes Abwenden davon als eine Art Beleidigung. Die Neugier beschäftigte sich allerdings viel mit ihm, aber er genoß auch nicht die geringste Sympathie in jenen Kreisen.
Noch schlimmer gestaltete sich das Verhältniß des Freiherrn zu dem Landvolk, das ihm geradezu feindselig gegenüberstand, und gerade seine eigenen Güter waren es, wo diese Feindseligkeit am schärfsten und nachdrücklichsten hervortrat. Selbst die zahlreichen Beamten, die auf den ausgedehnten Besitzungen und in den umfangreichen Bergwaldungen angestellt waren, traten selten oder nie für ihren Herrn ein, wenn ihre Stellung es ihnen auch verbot, offen gegen ihn Partei zu nehmen. In diesen Kreisen glaubte man unbedingt allen jenen Gerüchten, die über Raimund von Werdenfels im Umlaufe waren, und hielt um so hartnäckiger daran fest, je abenteuerlicher sie lauteten. Es war ein Gemisch von Furcht, Haß und Aberglauben, das schließlich einen förmlichen Sagenkreis um ihn wob.
Paul von Werdenfels war mit all diesen Verhältnissen nur sehr oberflächlich bekannt; er hatte nur durch gelegentliche Berichte und Schilderungen davon erfahren, aber es war genug, um im Verein mit dem, was er hier sah und hörte, ihm den Aufenthalt in Felseneck als unmöglich erscheinen zu lassen. Er kannte zwar jetzt den Grund dieser plötzlichen Berufung und mußte auch nothgedrungen die Fürsorge anerkennen, die darin lag, aber seit jener persönlichen Begegnung wußte er auch, daß es dem „gnädigen Herrn Onkel“, wie Arnold ihn nannte, sehr unbequem war, sich so eingehend mit seinem leichtsinnigen Neffen befassen zu müssen. Der Freiherr empfand diese Unterbrechung seiner gewohnten Einsamkeit offenbar als eine lästige Störung, hielt es aber doch für seine Pflicht, den jungen Mann, den er bisher so ganz sich selber überlassen, auf einige Zeit den Versuchungen der großen Welt zu entziehen. Eine derartige Buße aber war durchaus nicht nach Paul’s Geschmack, und er trat in sein Zimmer, wo Arnold soeben mit dem Auspacken der Garderobe beschäftigt war, mit einem Gesichte, das die übelste Laune verkündete.
„Du packst nur den kleinen Koffer aus, Arnold!“ befahl er. „Nur so viel, wie für etwa acht Tage nöthig ist; wir bleiben auf keinen Fall länger hier.“
„So?“ fragte Arnold indem er in seiner Beschäftigung innehielt und verwundert aufblickte. „Sind der Herr Onkel damit einverstanden?“
„O, der Onkel!“ rief Paul mit einem ärgerlichen Lachen. „Der hat die freundliche Absicht, mich den ganzen Winter hier oben zu behalten, damit ich Buße thue für meine Sünden und nebenbei bei ihm einen Cursus in der Menschenfeindlichkeit durchmache. Aber eine derartige Strafe lasse ich mir nicht zudictiren. Wir reisen in der nächsten Woche.“
„Nein, Herr Paul, das thun wir nicht!“ erklärte Arnold in voller Gemüthsruhe, während er schleunigst wieder auszupacken begann.
„Ich sage Dir, wir reisen! Soll ich etwa zum Trappisten werden in dieser Einsamkeit? Soll ich den ganzen Tag lang Gemsen schießen oder aus Verzweiflung die gelehrten Werke der Schloßbibliothek durchstudiren, die mir großmüthig zur Verfügung gestellt werden? Ich halte es nicht aus in diesem verwünschten Schlosse mit seiner öden unheimlichen Pracht! Ich komme mir wie verzaubert darin vor, und der Onkel hat auch etwas von einem Hexenmeister an sich, dem nichts verborgen bleibt. Er, der nie sein Schloß verläßt, der mit keinem Menschen Verkehr unterhält, ist trotzdem ganz genau über meinen Aufenthalt in Italien unterrichtet. Er weiß Alles, kennt Alles, sogar den Bernardo.“
„Sogar den Signor Bernardo!“ wiederholte Arnold mit einem ganz eigenthümlichen Seitenblicke. „Ja, woher mag er das erfahren haben?“
„Weiß ich es? Vielleicht hat es ihm seine weiße Geisterspitze da oben zugeflüstert. Mit natürlichen Dingen geht es nicht zu.“
„Der Herr Onkel waren wohl sehr wild von wegen unserer Schulden?“ fragte der alte Diener mit einer unverkennbaren Genugthuung.
„Nein,“ sagte Paul ernster. „Er war im Gegentheile die Güte selbst, aber ich wollte, er hätte mich gescholten. Ich hätte lieber die härtesten Vorwürfe ertragen, als diese eisige Gleichgültigkeit, mit der er Alles gewährte und Alles verzieh. Da ist auch nicht ein Funke von Wärme, von Interesse mehr vorhanden, weder für mich noch für sonst Etwas auf der Welt. Er scheint allen menschlichen Regungen abgestorben zu sein.“
Arnold pflegte sonst stets seinem jungen Herrn zu widersprechen; es war dies Grundsatz bei ihm, diesmal aber war er ausnahmsweise derselben Meinung. Er hatte in der Zwischenzeit die Diener ausgefragt und dabei so viel von den Sonderbarkeiten des alten Freiherrn gehört, daß es auch ihm in Felseneck nicht recht geheuer schien, aber er verstand es, mit den Verhältnissen zu rechnen.
„Ja, viel Vergnügen werden wir hier nicht haben,“ hob er an. „Der Herr Onkel scheinen – mit Erlaubniß zu sagen – etwas verrückt zu sein.“
„Ja, das ist er!“ stimmte Paul aus Herzensgrund bei. „Ein vernünftiger Mensch hat nicht solche Gewohnheiten.“
„Aber deshalb darf man ihm doch nicht den Respect versagen,“ fuhr Arnold mit Nachdruck fort. „Er ist und bleibt doch nun einmal der Chef der Familie, und außerdem unser Vormund.“
„Ich bin längst mündig.“ warf Paul heftig ein. „Schon seit drei Jahren.“
„Aber wir haben kein Geld,“ beharrte Arnold hartnäckig. „Der Herr Onkel kann uns enterben, und das thut er ohne Zweifel, wenn wir ungehorsam sind. Die Güter sind nicht Majorat – das wissen Sie ja, Herr Paul; es kommt alles auf das Testament an.“
„Meinetwegen, ich bin kein Erbschleicher!“ rief der junge Mann, indem er ungeduldig auf und abzuschreiten begann. „Kurz und gut, ich bleibe nicht in Felseneck. Die Luft hier bekommt mir nicht; in einigen Tagen werde ich krank werden, sehr krank. Der Onkel wird die Nothwendigkeit eines Luftwechsels einsehen und mein Leben nicht leichtsinnig auf das Spiel setzen – auf diese Weise geht es.“
Der alte Diener schüttelte in würdevoller Entrüstung sein graues Haupt.
„Sie sollten sich schämen, Herr Paul, eine solche Komödie zu spielen. Sie sehen ja so blühend aus, daß es eine Sünde ist, von Krankheit zu sprechen.“
„Ich bekomme das Fieber!“ erklärte Paul. „Dazu ist keine Blässe nothwendig, und übrigens werde ich es wirklich bekommen vor Aerger und Aufregung, wenn ich hier bleiben soll. Zu all seinen sonstigen Eigenschaften scheint der Onkel nun auch noch ein Weiberfeind zu sein. Die ganze Dienerschaft des Schlosses ist männlich; es existirt in diesen Mauern gar nichts Weibliches. Die einzige Vertreterin des schönen Geschlechts in der Nähe überhaupt ist die Frau des Försters, und die –“ Paul seufzte – „die ist über sechszig Jahr!“
Arnold erhob sich plötzlich von dem inzwischen ausgepackten Koffer und stellte sich mit voller Feierlichkeit vor seinem jungen Herrn hin.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_043.jpg&oldid=- (Version vom 4.9.2023)