Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Dobson saßen bei der Mittagstafel neben einander, und Lizzie barst fast das Herz von der ruhigen Freundlichkeit und der stets sich gleichbleibenden, unstörbaren Sicherheit des geliebten Mannes. Herr Dobson erklärte, daß er auf der neueröffneten Gotthardbahn nach Mailand reise – morgen schon.
Herr Castor freute sich, daß er dieselbe Tour am nächsten Tage auch anzutreten gedenke und sie dann wahrscheinlich zusammen reisen würden.
Herr Dobson verbeugte sich artig und sprach schlicht und einfach und ohne jede Erregung aus, daß ihm das sehr angenehm sei.
Lizzie saß still und schaute auf ihren Teller nieder; sie kämpfte bei dem so heiteren Tone der Worte ihres Nachbars mit Thränen.
Am nächsten Morgen traf man sich auf dem Dampfschiffe und in Fluelen bestieg man die Eisenbahn.
Der Zug war sehr besetzt. Die drei Reisegefährten konnten nicht bei einander sitzen. Dobson mußte seinen Platz am Ende des Waggons suchen.
Er ließ sich dort ruhig nieder und beschäftigte sich mit seinem Feldstecher und seinem Reisebuch.
Der Zug stieg in die Höhe, über Wiesen, durch Wald und Felsen, an Wasserstürzen vorbei, über Brücken und Viaducte: der mächtige Koloß, der Gotthard, mit seinen Gletschern trat näher, und Göschenen war erreicht.
Hier hielt der Zug, die Maschine wurde gewechselt; die Lampen im Wagen wurden angezündet, ein langgezogener Pfiff, das Läuten verschiedener elektrischer kleiner und großer Glocken, und hinein fuhr der Zug in den gigantischen Erdwall, der, zehntausend Fuß hoch bis an die Wolken seine ewig eisbekränzten Gipfel erhebend, Italien vom germanischen Lande trennt. Die Erregung der Passagiere war stark; die Temperatur im Wagen stieg, und die zuerst hellbrennenden Lampen bekamen nun röthliches Licht: das gab dem Inneren der Wagen einen feierlichen, fast düsteren Charakter.
Die Fahrt sollte vierzig Minuten dauern. Zwanzig Minuten waren schon unter dem erwartungsvollen Schweigen der Reisenden verflossen, seitdem man in dem Berge war, und weiter brauste das Dampfroß und dröhnten dumpf die rollenden Wagen.
Da ereignete sich etwas Seltsames.
Ein bisher still auf seinem Platze sitzender Herr hatte sich erhoben und schritt durch den Wagen, bis dahin, wo Herr Castor und, stark verschleiert, die junge Dame, seine Tochter saß.
Es war Herr Dobson, der seinen Platz verlassen.
Er stellte sich hochaufgerichtet vor Fräulein Lizzie hin und sprach mit lauter Stimme:
„Fräulein, wir sind zehntausend Fuß unter der Erde. Ich erinnere Sie an Ihr Wort. Ich biete Ihnen meine Hand, mein Herz, mein Vermögen – wollen Sie mein Weib werden?“
Eine seltsame Pause trat ein; die Wagen rollten; rothes Fackellicht fiel von draußen schwankend in den Wagen und beleuchtete den großen Mann, der da stand. Er hatte Englisch gesprochen; es waren Engländer im Zuge, auch die andern Passagiere mußten ihn verstanden haben; denn Alle hatten sich jetzt von den Sitzen erhoben und starrten verwundert nach dem seltsamen Fremden und der jungen Dame hin, der seine Anrede galt. Athemlos lauschte man den Dingen, die sich da entwickeln würden.
Man bekam nicht viel zu hören, und die Scene fand einen so schnellen Abschluß, wie sie plötzlich und überraschend begonnen.
Die junge Dame erhob sich hastig von ihrem Platze, schlang die Arme um den vor ihr stehenden Mann und flüsterte ihm mit bebender Stimme in’s Ohr:
„Ich will Dich tausend – zehntausendmal will ich Dich!“
Plötzlich ertönte ein langgezogener Pfiff; das Tageslicht begann zu leuchten; die sonderbare Scene war vergessen; alle Passagiere stürzten an die Fenster, um den Ausgang des Riesentunnels zu sehen.
Der Zug hielt, und bevor die neugierigen Reisenden sich wieder des Abenteuers, dessen Zeugen sie eben gewesen, erinnern und nach den handelnden Personen dieses originellen Dramas ausschauen konnten, hatten diese eiligst den Wagen verlassen und ihre Plätze waren leer.
Man sah aber noch den blauen Schleier der Miß hinter dem Gerüst von der Alberga di San Gotardo in Airolo verschwinden.
Der Zug fuhr ab, weiter in’s italische Land hinein, zu Cypressen und Oelbäumen.
Herr Castor mit seiner Tochter und Herr Dobson machten einen kleinen Spaziergang.
Lizzie ging am Arme Dobson’s etwas voraus, indeß Herr Castor eifrig die Gesteinsarten hier zu untersuchen schien.
„Und Du hast die ganzen zwei Jahre daran gedacht?“ hören wir jetzt Lizzie ganz glückselig fragen.
„Von dem Moment an, als Du von den zehntausend Fuß unter der Erde sprachst, setzte ich meine Hoffnung auf diesen Augenblick und habe sehnsüchtig auf die Eröffnung der Bahnlinie gewartet.“
„Und bautest so felsenfest auf mein Wort?“ frug Lizzie weiter.
„Ich kenne Deinen Charakter und baute auf Dein Wort, weil ich fest glaubte, daß Du mich nur aus Stolz und Laune abgewiesen, da ich fast ein Wenig zu hinterwäldlerisch vorging. Das konnte Dich beleidigt haben – so überlegte ich bei mir – weil ich aber sah und fühlte, daß Du mich liebtest, so schien es mir unmöglich, daß Du mir ewig zürnen könntest – und die zwei Jahre, in welchen Du alle Freier abwiesest, haben mich in meiner Ansicht, in meinem Glauben, in meinem Vertrauen bestärkt.“
„Und so hast Du mich in meiner Pein gelassen und zwei Jahre lang auf diesen Moment gelauert?“ sprach darauf schmollend, wie jedes andere zärtliche Mädchen, Lizzie.
„Nicht gelauert – aber gewartet,“ erwiderte Dobson. „Ich glaubte bestimmt, daß, wenn ich mich Dir wieder genähert, Du mich zum zweiten Mal abgewiesen hättest, und dann wäre ich ein einsamer Mann geblieben. So hatte ich schon Dein Wort und konnte Dich beim Wort nehmen, ich wußte, daß Dein Stolz wiederum es nicht zulassen würde Dein Wort zu brechen. In der Secunde, als Du das Spottwort von den zehntausend Fuß aussprachst, stieg bei mir die Idee auf, daß dies das Mittel wäre, Dich Dir selbst abzutrotzen.“
„Du bist ein schrecklicher Mensch,“ sagte Lizzie, einen innigen Gluthblick in die Augen des neben ihr dahinschreitenden großen Mannes werfend.
„Nicht schrecklicher als Du, Mädchen. Du hast zwei Jahre mit keiner Wimper gezuckt und fortgeblickt, wenn Du mich gesehen – darauf habe ich ruhig die paar Jährchen abgewartet und Dich schmollen lassen. Du hast in der Zeit Dein Herz kennen gelernt, und ich eine Million Dollars gewonnen, sodaß wir jetzt ohne Geschäft leben können, wo wir wollen, wenn es Dir gefällt, aus Dankbarkeit gegen den Vater Gotthard, unseren zweiten Schwiegervater, sogar hier in Airolo“ – schloß Dobson mit dem ihm oft eigenen ironisch drolligen Humor.
„Nun, zuerst setzen mir doch unsere Reise nach Mailand fort,“ mischte sich jetzt Herr Castor, der mittlerweile das Paar eingeholt und die letzten Worte gehört hatte, in das Gespräch. „Ich möchte doch nicht als Dritter im Bunde diesen ganzen Sommer hier sentimental mit Euch spazieren gehen – das heißt Steine betrachten,“ fügte Herr Castor sehr heiter gestimmt hinzu.
„Natürlich, Pa,“ antworteten darauf die beiden Glücklichen lachend.
„Weißt Du übrigens,“ warf jetzt Lizzie mit ernster Miene ein, „daß dreitausend Fuß an den zehntausend fehlen. Göschenen und der Tunnel liegen gegen dreitausend Fuß über dem Meere, wie ich mich erinnere im Reisebuch gelesen zu haben. Ich habe also dreitausend Fuß noch zu gut und, wenn Du Dich nicht gut beträgst, kann ich diese als Scheidungsgrund geltend machen.“
„O, Deine Rechnung stimmt nicht,“ gab darauf lachend Dobson zurück, „ich wußte sehr wohl, daß diese dreitausend Fuß noch fehlen, aber als alter gewiegter Kaufmann habe ich sie verdienen wollen – der Handel ist abgeschlossen und unsere Rechnung quitt.“
Die amerikanische Colonie in Rom, wohin die Familie Castor mit Dobson als Verlobtem des Fräulein Lizzie einige Wochen später kam, war nicht wenig überrascht durch das fast gleichzeitige Eintreffen der Verlobungsanzeige im „Herald“ und der beiden „unglücklichen“ Liebenden, an deren Zusammenfinden sich höchst seltsame Legenden knüpften.
Was wir davon erlauscht, haben wir unsern Lesern hier mitgeteilt.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_038.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2023)