Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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„Ich bitte um Verzeihung, aber die Meldung kann nicht eher gemacht werden, bis der Herr selbst sie verlangt. Es darf Niemand ungerufen sein Zimmer betreten.“
„Auch Sie nicht?“ fragte Paul, indem er den alten weißhaarigen Mann ansah, der mindestens so lange in den Diensten seines Onkels war, wie Arnold in den seinigen.
„Auch ich nicht, der Befehl gilt für Alle ohne Ausnahme. Darf ich jetzt das Frühstück serviren lassen?“
„Serviren Sie!“ sagte Paul resignirt, und der Haushofmeister verschwand. Kaum aber hatte sich die Thür hinter ihm geschlossen, so warf sich der junge Mann in einen Sessel und brach in ein lautes Gelächter aus.
„Das wird ja recht unterhaltend werden! Ich bin also bei sämmtlichen Mahlzeiten ausschließlich auf meine eigene Gesellschaft angewiesen und bin bescheiden genug, das sehr langweilig zu finden. Arnold, was machst Du für ein Gesicht! Habe ich es Dir nicht gesagt, daß wir uns hier auf alles gefaßt machen müssen?“
Arnold stand noch immer da, mit einer Reisetasche in der Hand, jetzt aber kam er langsam näher und sagte mit sehr bedenklichem Kopfschütteln:
„Also der gnädige Herr Onkel schlafen den ganzen Tag hindurch?“
„Ja, und das werde ich in Zukunft auch thun,“ erklärte Paul. „Es ist jedenfalls das einzige Vergnügen, was Felseneck bietet. Man scheint hier vollständig zum Murmelthier zu werden.“
„Herr Paul, man spricht nicht in solchem Tone von dem Chef der Familie,“ ermahnte Arnold.
„Der Chef der Familie ist wirklich mit allen möglichen Uhu- Eigenthümlichkeiten behaftet!“ rief Paul, ganz unbekümmert um die Zurechtweisung. „Aber jetzt trage die Reisetasche in das Schlafzimmer und sieh zu, daß Du gleichfalls ein Frühstück erhältst! Auf Waldbeeren werden wir wohl nicht zu rechnen brauchen, aber es wird dennoch eine trübselige Mahlzeit werden.“
Die beiden Voraussetzungen erwiesen sich als richtig. Der Haushofmeister erschien auf’s Neue, lautlos, feierlich und ernst mit einem Diener, der das Frühstück servirte, und lautlos, feierlich und ernst ging der Act vorüber. Paul aß vorzüglich, langweilte sich entsetzlich und berechnete dabei, wie viel Stunden und Minuten diese Woche enthielt, die er anstandshalber hier zubringen mußte. Siebenundsechszig Minuten waren schon vorüber – Gott sei Dank!
Die nächsten Stunden vergingen mit der Orientirung in dem neuen Aufenthalt. Paul durchwanderte die sämmtlichen Räume des Schlosses, dessen Besichtigung der Haushofmeister zuvorkommend anbot, aber es wurde dem jungen Manne mit jeder Minute unheimlicher in der Oede und Einsamkeit all dieser Zimmer und Säle und bei diesem schweigsamen Führer, der jede Thür öffnete, jede Frage beantwortete, aber nicht ein Wort mehr sprach, als unbedingt nöthig war.
Da waren ganze Reihen von Gemächern, deren Einrichtung, streng im Stile des Schlosses gehalten, ebenso viel Pracht wie künstlerischen Geschmack verrieth. Sie schienen nur der Bewohner zu harren, aber sie wurden nicht bewohnt, und man merkte es ihnen an, daß sie monatelang gar nicht betreten wurden.
Da gab es einen vorzüglich ausgestatteten Marstall, mit den edelsten Pferden und ein halbes Dutzend Reitknechte, deren Aufgabe darin bestand, die edlen Thiere, welche nie benutzt wurden, spazieren zu führen. Da zeigte sich eine zahlreiche Dienerschaft, die Niemand bediente, sondern nur für das Schloß und dessen Räume da war – kurz, es war ein Haushalt in großem Stile und auf wahrhaft verschwenderischem Fuße zum Dienste eines Einzigen eingerichtet – aber dieser Einzige machte keinen Gebrauch davon.
Freiherr von Werdenfels wohnte drüben in dem alten noch erhaltenen Theile der ehemaligen Burg, den er hatte restauriren lassen, und betrat nie das neue Schloß. Wenn er überhaupt ausritt, so benutzte er stets ein und dasselbe Lieblingspferd, das zu seinem ausschließlichen Dienste bestimmt war. Seine Dienerschaft sah er gar nicht, da es ihr streng verboten war, seine Zimmer zu betreten, und er selbst blieb größtentheils unsichtbar für sie. Das erfuhr Paul nach und nach auf seine Fragen, und als er endlich in sein Zimmer zurückkehrte, war er zu dem Resultate gekommen, daß ganz Felseneck verhext sei, der unsichtbare Herr desselben gleichfalls, und daß man so schleunig wie möglich diesen verfänglichen Ort fliehen müsse, um nicht demselben Schicksal zu verfallen.
Die unbehagliche Stimmung des jungen Mannes steigerte sich mit jeder Minute. Jetzt, wo es darauf ankam, dem Onkel selbst gegenüber zu treten, wollte es ihm nicht mehr gelingen, dessen Eigenthümlichkeiten, wie bisher, von der komischen Seite zu nehmen, und eine peinliche Empfindung gewann in ihm immer mehr die Oberhand. Welch ein Empfang wartete seiner bei diesem offenbaren Menschenfeinde, der nicht einmal mit seiner nächsten Umgebung verkehrte! Er bemühte sich vergebens, in seiner Erinnerung ein klares Bild des Mannes herzustellen, den er nur ein einziges Mal gesehen hatte, und das war vor zehn Jahren gewesen, an der Leiche seines Vaters, als der Schmerz des Verlustes jede andere Empfindung in den Hintergrund drängte.
Damals war Raimund von Werdenfels allerdings erschienen, um die Vormundschaft über den verwaisten Sohn seines Verwandten zu übernehmen und der Wittwe, die ganz mittellos dastand, seinen Beistand zu sichern. Er hatte sein Versprechen auch in vollstem Maße gehalten, dabei aber jeden persönlichen Verkehr vermieden. Seine Vormundschaft über Paul existirte nur dem Namen nach; dieser wurde gänzlich von seiner Mutter erzogen, der Werdenfels eine sehr reiche Rente ausgesetzt hatte. Nach ihrem Tode ging diese Rente unverkürzt auf den Sohn über, nicht gerade zum Vortheil des jungen Mannes, der sich dadurch gewöhnte, über sehr bedeutende Mittel zu verfügen, während er selbst vermögenslos war und gänzlich von der Großmuth des Onkels abhing.
Er machte unbedenklich von dieser Großmuth Gebrauch, hatte sich aber bisher stets in den ihm gezogenen Grenzen gehalten. Erst der Aufenthalt in Italien und die lockere Gesellschaft dort verleiteten ihn zu einer Verschwendung, die er jetzt bitter bereute. Er erschrak selbst, wenn er an die Höhe der Summen dachte, die doch nothwendig gedeckt werden mußten, und in solchen Momenten war er sogar geneigt, seinen Freund Bernardo und dessen Einfluß auf ihn mit sehr kritischen Blicken zu betrachten. So leichtsinnig Paul auch sein mochte, er empfand doch tief das Peinliche eines derartigen Bekenntnisses vor dem Mann, dem er Alles verdankte, und er hätte viel darum gegeben, wenn die nächsten Stunden erst vorüber gewesen wären.
Endlich, gegen drei Uhr, kam die Botschaft, daß Freiherr von Werdenfels seinen jungen Anverwandten zu sehen wünsche. Diesmal war es der Kammerdiener des Freiherrn, der die Nachricht brachte, ein Mann gleichfalls in höheren Jahren, der dem Haushofmeister seine einsilbige Höflichkeit abgelernt zu haben schien. Er ersuchte den jungen Baron, ihm zu folgen, und ging voran, um den Weg zu zeigen, der ziemlich lang war. Sie schritten durch hallende Gänge, stiegen Treppen hinauf und hinunter und passirten endlich die Gallerie, die den neuerbauten Theil des Schlosses mit den noch erhaltenen Resten der alten Burg verband. Hier ging es wieder eine enge gewundene Treppe hinauf, dann durch ein kleineres Vorzimmer; endlich öffnete der Diener eine Thür und ließ den jungen Mann eintreten, während er selbst zurückblieb.
Paul sah sich mit einem Gemisch von Neugierde und Beklemmung in dem Raume um, wo er augenblicklich noch allein war; wenn er aber erwartet hatte, irgend etwas Ungewöhnliches zu finden, so täuschte er sich darin, wie in seinen übrigen Voraussetzungen. Es war ein ziemlich großes, halbrundes Gemach, dessen Fenster zu beiden Seiten den vollen Ausblick auf das Gebirge gewährten. während die Thür zwischen ihnen auf einen Altan führte, von dem aus man eine noch unbeschränktere Aussicht genoß. Die Einrichtung erschien auf den ersten Blick viel einfacher, als in den übrigen Zimmern des Schlosses, obgleich sie in Wirklichkeit einen weit höheren Werth hatte; denn hier bildete jeder Gegenstand ein Kunstwerk für sich. Erst bei näherer Betrachtung gewahrte man, welch eine Fülle der kostbarsten Schnitzereien an diesen Möbeln verschwendet war, wie reich und schwer die Gewebe all dieser Vorhänge, Decken und Teppiche waren. Die tiefdunklen Farben, die überall vorherrschten, ließen die Pracht der Ausstattung gar nicht zur Geltung kommen und liehen ihr den Charakter einer düsteren Einfachheit. Das Tageslicht vermochte nur gedämpft hereinzudringen; denn die Fenster wie die Thür lagen so tief in den Mauernischen, daß sie eigene kleine Räume für sich bildeten, und das schwere Eichengetäfel der Wände gab dem Raume vollends etwas Bedrückendes, den der trübe Nebeltag da draußen schon jetzt in dämmernde Schatten zu hüllen begann.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_023.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2023)