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Seite:Die Gartenlaube (1883) 020.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

giebt es keine Staatsreligion; Jeder kann nach seiner Façon selig werden, und alles Kirchliche ist durchaus privater Natur. Jede Gemeinde wählt sich ihren Seelsorger nach ihrem Geschmack; jene zieht einen studirten vor; diese verschmäht den Theologen von Fach und wählt sich einen Laien, den sie wieder absetzt, wenn er ihr nicht mehr gefällt. In Amerika kann Schneider Fips oder Meister Pechdraht Pastor werden, und ich kenne auch wirklich einen deutschen Schuster, der den Knieriemen in den Kehricht schleuderte, sich mit seinen Leisten den Ofen heizte und jetzt auf der Kanzel sein Licht leuchten läßt. Bei derartigen Verhältnissen erklärt es sich, daß geistliche Strolche oder strolchende Geistliche keineswegs so ganz seltene Erscheinungen sind. Der „Evangelist“ ist übrigens Pfarrer von Beruf gewesen, und auch jetzt noch übernimmt er der Abwechselung halber, wenn seine frommen Auftraggeber ihn gut bezahlen, eine Predigertour und hält in einem „camp meeting“ den andächtigen Zuhörern eine donnernde Philippica über ihre Sünden.

Die Karawane der Tramps folgt dem Gang der Ernte von Süd nach Nord; sind sie bei den Farmern doch gern gesehene Gäste; denn es giebt vollauf zu thun, und Arbeiter sind rar. Die Obstzucht wird hier in ungeheurem Maße betrieben, und da heißt es dann: Erdbeeren sammeln, Pfirsichen pflücken und Brombeeren lesen. Später beginnt die Hopfenernte im Staat New-York und nachher in Wisconsin, und das Einheimsen des Weizens in Minnesota bildet den Schluß. Das ist die goldene Reisezeit für den Stromer, die ihn viele Hunderte von Meilen weit führt, seine Sommerfrische, die sich tief hineinerstreckt in unsern wunderschönen Herbst, die ihn stärkt und kräftigt. Sie vertritt bei ihm die Saison der Vergnügungen; denn die Arbeit ist leicht, und es fällt ihm gar nicht ein, sich zu plagen. Auch verdingt er sich nicht etwa bei dem Bauer, um Geld für den Winter zu sparen oder um mit dem Erworbenen ein neues thätiges Leben anzufangen. Nein, nach dem Feierabend wird gezecht und getanzt; denn Frauenzimmer sind genug da, und die Whiskeyflasche macht so lange die Runde, bis der letzte Cent aus der Tasche ist. Gefällt es ihm nicht mehr an dem einen Orte, so wandert er der nächsten Bahn zu, die ihn weiter nördlich oder nordwestlich trägt.

Ist die Ernte vorüber, so wälzt sich das Corps der Landstreicher aufgelöst und trümmerweise, wie ein zerschlagenes und gesprengtes Heer, wieder südwärts. Der „Gerichtsdirector“ und der „Evangelist“ sind auf dem Schienenwege endlich nach St. Louis gelangt. Sie wollen eine klimatische Cur genießen und den sonnenheißen Regionen zupilgern, wo die Orange glüht und der Spottvogel pfeift. Des anstrengenden und gefahrvollen Eisenbahnfahrens müde, beabsichtigen sie auf dem Rücken des „Vaters der Ströme“ nach dem blauen Spiegel des Golfs von Mexico zu schwimmen. Zunächst reinigen sie sich gründlich durch ein Bad und lassen ihren Kleidern, oder vielmehr ihren Lumpen, die ihnen so nothwendige trockene Wäsche zukommen. Sie breiten dieselben sorgsam über eine Ameisencolonie aus und überlassen es den fleißigen Thierchen, die lästigen Parasiten als willkommene Jagdbeute in ihren Bau zu schleppen.

Dort liegt der stattliche Mississippidampfer vor Anker; noch heute soll er lichten. Die schwarzen Frachtverläder sind damit beschäftigt, die letzten Getreidesäcke zu förmlichen Bergen aufzuthürmen. Die beiden Freunde brauchen sich durchaus nicht zu geniren; ungehindert begeben sie sich an Bord und treffen auf dem Deck schon eine ganze Menge von ihren Schicksalsgenossen an, die gleich ihnen die Fahrt machen wollen. Auf Balken, Kisten und Tonnen sitzen sie oder sie umringen den Ofen, sich Kartoffeln und Maiskolben röstend, welche sie aus den hier aufgestapelten Säcken gestohlen haben. Sie bewegen sich zwanglos und frei; denn von dem Schiffsclerk ist vorläufig nichts zu befürchten. Der hat noch lange keine Muße, sich mit ihnen zu beschäftigen; die große Razzia, die Ausmusterung, nimmt er erst am folgenden Tage vor, sobald Cairo passirt ist. Dann werden die Deckpassagiere, welche ihr Billet gelöst haben, von den blinden Fahrgästen gesondert und letztere am nächsten Landungsplatze ausgesetzt. Es geschieht dies in aller Freundlichkeit und Nächstenliebe; denn man betrachtet auf den Flußdampfern des Westens die Tramps als ein nothwendiges Uebel, mit dem man rechnen muß. Die Procedur des Entfernens kümmert die Stromer indessen wenig; bei ihnen ist Zeit nicht Geld; sie haben von diesem Artikel übergenug auf Lager und sind darum in keiner Eile. Sie warten geduldig auf den nächsten Dampfer und reisen auf ihm weiter, werden nach Zurücklegung einer ganz hübschen Strecke abermals an das Ufer befördert und vollenden die Tour stückweise, aber sicher.

So ist denn unser Tramp eine Art Rentier, der den Winter in behaglicher Muße in einer Großstadt verlebt und den Sommer auf Reisen verbringt. Die vielfachen Gefahren, denen er tagtäglich sich aussetzt, sind für ihn ein Sport, den er nicht fürchtet; sie würzen ihm ein Dasein, welches ihm sonst vielleicht unerträglich würde. Mit seinen Cameraden befindet er sich in bestem Einvernehmen und vollkommenster Harmonie; gleiche Interessen verbinden alle Mitglieder der fahrenden Gilde und schaffen unter ihnen eine gewisse Solidarität. Sie helfen einander, wo sie nur können, und bilden oft Banden, die durch unverschämte Frechheit, durch Androhung von Gewalt nicht nur einsam wohnenden Farmern gefährlich werden, sondern sogar ganzen Ortschaften so lästig fallen, daß diese sich genöthigt sehen, Front gegen sie zu machen und sie zu verjagen. So harmlos sind die Burschen nicht, zumal in Horden vereint; denn es giebt unter ihnen immer genug entlassene oder entlaufene Sträflinge und Zuchthäusler, welche die Führerschaft übernehmen. Nicht selten ereignet es sich, daß eine Stadt, der Schmarotzer überdrüssig, sie nicht in das Arbeitshaus steckt, was zu viel kosten würde, sondern ihnen Fahrbillets für einen im nächsten Staat belegenen Ort kauft und sie fortspedirt.

Es ist ein eigenartiges Leben, das Leben des amerikanischen „Ritters von der Straße“, eine Erscheinung, die nur auf dem Boden der neuen Welt möglich ist und mit deren oben entworfenem Bilde wir dem europäischen Leser etwas wohl nicht ganz Uninteressantes geboten haben.

Max Lortzing.     




Blätter und Blüthen.

Zur Heilung des Schreibekrampfes. Vor Kurzem hat Professor von Nußbaum in München eine kleine Broschüre unter dem Titel „Einfache und erfolgreiche Behandlung des Schreibekrampfes“ veröffentlicht. Die günstige Aufnahme, welche ihr in den medicinischen Kreisen zu Theil wurde, veranlaßt uns heute, die Grundidee des Nußbaum’schen Heilverfahrens auch unseren Lesern bekannt zu geben. Wir folgen dabei den Ausführungen des Professor Dr. Friedrich Busch, welcher in seinem soeben erschienenen, trefflichen Werke „Allgemeine Orthopädie, Gymnastik und Massage“ (Leipzig, F. C. W. Vogel) auch dieses Thema behandelt.

Der Gedanke, welcher Nußbaum leitete, war folgender: da das Schreiben fast ausschließlich durch die Thätigkeit der Flexoren und Adductoren der Finger (das heißt derjenigen Muskeln, welche die Finger beugen und an einander drücken) zu Stande kommt und diese sich bei der genannten Krankheit krampfhaft zusammenziehen, so konnte man hoffen, daß eine Methode des Schreibens heilsam wirken würde, bei welcher die Extensoren und Abductoren der Finger (das heißt diejenigen Muskeln, welche die Finger strecken und aus einander spreizen) angespannt werden. Nußbaum construirte zu diesem Zweck einen aus Hartgummi hergestellten ovalen Reifen, welcher an seiner oberen Fläche den Federhalter mit einer Schraube eingeklemmt trägt. Dieser Reifen ist etwas breiter als die Hand und muß daher, wenn er über die Finger hinübergeschoben wird, durch Spreizung der ausgestreckt gehaltenen Finger festgehalten werden. Das Schreiben wird jetzt durch die Bewegungen der ganzen Hand bewerkstelligt. Sowie der Patient in der Thätigkeit seiner Abductoren nachläßt, löst sich der Reifen von den Fingern los, wodurch das Schreiben aufhört. Der Patient ist daher gezwungen, die ganze Nervenreizung, die er früher auf seine Flexoren und Adductoren übertrug, jetzt auf die Extensoren und die Abductoren einwirken zu lassen. Durch diese Anspannung der entgegengesetzt wirkenden Muskeln waren viele Patienten mit Zuhülfenahme des Reifens sehr wohl im Stande, anhaltend zu schreiben, die vorher kaum noch einen einzelnen Buchstaben hatten schreiben können. Nußbaum hofft aber noch einen anderen Erfolg, der sich freilich erst nach längerer Zeit herausstellen kann, zu erzielen. Er hofft, daß, wenn ein Patient eine gewisse Zeit mit Hülfe des Reifens geschrieben und dadurch seine Abductoren und Extensoren stark angespannt haben wird, während die Flexoren und Adductoren in Ruhe verharren, er dann auch wieder zur gewöhnlichen Federhaltung wird zurückkehren können, ohne durch den Krampf belästigt zu sein. Sollte sich diese Hoffnung bewähren, so würde die Nußbaum’sche Methode eine der glänzendsten Entdeckungen auf dem Gebiete der Nervenkrankheiten sein, welche, wie das bei großen Entdeckungen so oft der Fall ist, durch die Einfachheit des ihr zu Grunde liegenden Gedankenganges imponirt. Aber selbst wenn diese Hoffuung sich nicht erfüllt, so bleibt der Nußbaum’sche Reifen eine sehr wesentliche Bereicherung auf diesem der heilenden Thätigkeit des Arztes bisher so schwer zugänglichen Gebiete.





Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_020.jpg&oldid=- (Version vom 16.12.2023)