Verschiedene: Die Gartenlaube (1882) | |
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Nachdem er im Süden bereits jeden romantischen Punkt, jedes idyllische Fleckchen ausgespäht, ist ihm vermöge der fortschreitenden Entwickelung der modernen Communicationsmittel neuerdings ein Gebiet erschlossen worden, das, bisher abseits und unbeachtet gelegen und daher noch mit dem vollen Reize des Geheimnißvollen umkleidet, neue und lohnende Entdeckungen in Fülle verspricht. Es ist der skandinavische Norden, die Ultima Thule unserer Vorfahren, für unsere nordpolforschende Zeit aber nicht länger das Ende der Welt.
Die vielgelesenen Schilderungen namhafter deutscher Schriftsteller wie Mügge, Laube, Rasch, Passarge haben die bis dahin festgewurzelten Vorurtheile, welche sich Skandinavien als eine sterile, vegetationslose Eis- und Felswüste unter einem ewig trüben Himmel und bevölkert von wilden Thieren vorstellten, so ziemlich beseitigt, und mehr und mehr hat sich seitdem der große, bis dahin fast ausschließlich Italien und die Alpenländer überfluthende Touristenstrom den skandinavischen Reichen und unter ihnen vornehmlich dem wildromantischen Norwegen zugewendet.
Die Mehrzahl der Reisenden, welche eine Rundtour durch die norwegischen Hochlande beabsichtigen, wird, da fast sämmtliche Zugangsrouten in der Landeshauptstadt Christiania münden, diese zum Ausgangs- oder Schlußpunkt ihrer Reise wählen müssen. Aber nur die wenigsten verweilen hier länger, als es zu einer flüchtigen Umschau nothwendig ist. Wer den Norden aufsucht, will meistens lediglich dessen großartige Natur bewundern, und nur selten hat man zudem Christiania unter den sehenswertheren Städten Europas nennen hören. Und dennoch ist, gänzlich abgesehen von den vortrefflichen Gasthöfen, welche diesen Ort mehr als einen anderen in ganz Norwegen zu einem Ruhepunkte geeignet erscheinen lassen, Christiania eine in mehr als einer Beziehung interessante Stadt, die hinsichtlich ihrer Lage selbst im Süden nur wenige Rivalinnen zu fürchten hat, im Norden aber gar keine. Wohl gewährt das alterthümliche Bergen, umgeben vom siebengezackten Felsenkranz, einen großartigeren Totaleindruck; wohl zeigt die fluthumrauschte Inselstadt Stockholm mit ihren stolzen Palästen und metallenen Heldenbildern, ihren kühnen Brücken und granitenen Quais ein vornehmeres und imposanteres Stadtbild, an Anmuth, Farbenfülle und Abwechselungsreichthum aber stehen Christianias Umgebungen einzig da.
Von welcher Seite man sich auch der Hauptstadt Norwegens nähert, ob zu Wasser oder zu Lande, stets wird man durch ihren ersten Anblick um so mehr überrascht und entzückt sein, als die Naturgenüsse, welche die lange Reise geboten, nur bescheidener Art waren. Die Fahrt auf dem zwölf deutsche Meilen langen, bald meerartig breiten, bald zum Strome verengten Fjord, an einsamen Klippenstränden, zerstreuten Felsinseln, dunklen Nadelholzungen und rothbemalten Fischerhütten vorbei, ist bei aller Anmuth auf die Dauer doch etwas monoton und ermüdend. Sobald aber der Dampfer die weit vorspringende Landzunge Nœsodtangen umfahren hat, entfaltet sich mit einem Schlage das ganze zauberhafte Panorama von Christiania vor den entzückten Augen, welche Mühe haben, es in allen seinen Einzelheiten zu fassen.
Kommt man aber mit der Eisenbahn von Gothenburg, so fühlt man sich, nachdem man den ganzen langen Tag durch eine unerfreuliche Wald- und Felswüste dahin geeilt, doppelt erfrischt, wenn man, am Rande des den Christiania-Fjord östlich begrenzenden Hochplateaus angelangt, tief unten den metallisch blitzenden Meeresarm mit seinen Hunderten von Inseln, vom Glanze der scheidenden Sonne übergossen, vor sich ausgebreitet sieht, ein Anblick, der uns so lange erfreut, bis der Zug langsam auf Gallerien und Dämmen in das weite, farbenreiche, mit menschlichen Wohnungen übersäete Thal hinabgestiegen ist.
Die Landschaft um Christiania hat nichts von dem herben, ernsten Charakter, der sonst dem Norden eigen, sondern ist von heiterem, fast südlich zu nennendem Liebreize. Auf Schritt und Tritt werden hier Erinnerungen an die apenninische Halbinsel wach. Schauen wir von dem steil aus dem Fjorde aufsteigenden, waldbekleideten Ekeberg landeinwärts auf das in satten Farben leuchtende Thal des Akerselv, in dem sich die ausgedehnte Stadt mit ihren langen, weiß schimmernden Häuserreihen, ihrem hochragenden Schlosse, ihren vielen Thürmen, die alle von der mächtigen Kuppel der Dreifaltigkeitskirche überragt werden, behaglich bettet, so fällt uns das ferne, schöne Florenz ein, wie wir es vom sonnigen Bello Squardo oder von Fiesole aus gegrüßt haben. Gleiten wir dann wieder im leichten Nachen über den blauen Wasserspiegel des Fjords und senden von hier den Blick nach der von einem weiten, aus sanften Hügeln, grünen Wäldern und blühenden Auen gebildeten Amphitheater umgebenen Stadt, so gedenken wir Comos und seines lieblichen myrthenumdufteten Sees, dessen stolzen Alpenhintergrund man hier freilich nicht suchen darf. Schweifen wir aber an der vielgewundenen Fjordküste umher, wo unzählige Villen aus dunklem Tannengrün hervorleuchten und sich mannigfach wechselnde Aussichten auf die malerischen Felseninseln und Vorgebirge eröffnen, so wähnen wir uns an den Golf von Neapel versetzt, nur daß hier die Formen weicher, die Farben matter sind und kein qualmender Bergriese dieses Paradies mit Tod und Vernichtung bedroht.
Aber nicht blos malerisch schön ist die Lage Christianias, sie ist vor allen Dingen höchst vortheilhaft für Handel und Verkehr. Der tiefe, gute und sichere Häfen gewährende Fjord, in welchem selbst in strengen Wintern das Fahrwasser durch einen Eisbrecher offen gehalten wird, ermöglicht eine directe Dampfschiffsverbindung mit allen größeren europäischen Hafenplätzen, während Schienenstränge nach verschiedenen Richtungen hin die norwegische Hauptstadt mit Drontheim, Stockholm und Gothenburg in Verbindung setzen. Vermöge dieser günstigen Verkehrsverhältnisse ist Christiania, das bereits gegen 200 eigene Schiffe besitzt, eine der bedeutendsten Handelsstädte in Nordeuropa geworden. Außerdem ist es auch der Hauptsitz der zwar noch geringfügigen, sich aber von Jahr zu Jahr mehr entwickelnden norwegischen Industrie. Wir finden hier eine beträchtliche Anzahl großer Maschinenfabriken und Sägemühlen, so wie mehrere Brauereien im größten Stile, welche jenes kräftige, stark alkoholhaltige, aber sehr wohlschmeckende Bier erzeugen, das neuerdings auch im Auslande verdiente Anerkennung gefunden hat und bis nach Brasilien exportirt wird. Weitere Ausfuhrartikel sind Holz, Fische, Felle; eingeführt werden dagegen hauptsächlich Colonialwaaren, Getreide und Wein.
Christiania ist eine verhältnißmäßig junge Stadt, die Nachfolgerin des alten, etwas weiter östlich am Fuße des Ekeberges gelegenen Olso, das, jetzt zu einem ärmlichen Vororte herabgesunken, zur Unionszeit Landeshauptstadt und eine nicht unbedeutende Niederlassung der Hansa war, bis es im Jahre 1624 durch eine furchtbare Feuersbrunst vollständig eingeäschert ward. Den dadurch obdachlosen Bewohnern befahl Christian der Vierte, Dänemarks gefeiertster Nationalheld und einer der wenigen dänischen Könige, die sich auch um Norwegen verdient gemacht haben, sich jenseits des Flüßchen Akerselv im Schutze der alten, schon unter König Hakon dem Siebenten erbauten Veste Akershus neu anzusiedeln. So entstand das nach seinem neuerdings durch eine Statue geehrten Gründer benannte Christiania. Noch heute bildet jene aus regelmäßigen Häuserquadraten bestehende älteste Anlage den Kern der norwegischen Hauptstadt, deren City, die jedoch einen architektonisch ziemlich dürftigen Charakter zeigt. Dafür herrscht hier in den Geschäftsstunden ein reges Leben, das sich namentlich an den beiden Häfen, welche durch eine vorspringende Felszunge von einander geschieden werden, entfaltet. Letztere trägt die erwähnte altersgraue, aber als Bauwerk wenig interessante Festung, von deren hohen Wällen sich dem Spaziergänger herrliche Blicke auf den inselreichen Fjord mit seinen lieblichen Hütten, sowie auf die beiden belebten Häfen und die thurmreiche, landeinwärts langsam ansteigende Hauptstadt darbieten.
Um die alte Stadt Christian’s des Vierten hat sich nun innerhalb der letzten Decennien das neue Christiania in weitem Halbkreise ausgebreitet, und zwar mit rapider, an amerikanische Verhältnisse erinnernder Schnelligkeit. Aus dem armseligen Landstädtchen, das noch zu Anfang dieses Jahrhunderts kaum 9000 und noch vor 25 Jahren erst 40,000 Einwohner zählte, hat sich allmählich eine große und wohlhabende Stadt entwickelt, welche jetzt 124,000 Menschen Obdach und Nahrung giebt und ihren Culminationspunkt noch lange nicht erreicht zu haben scheint. Leider hat man versäumt bei Zeiten einen rationellen Bebauungsplan aufzustellen. Die alljährlich entstehenden Häuserreihen ziehen sich immer weiter in’s Land hinein, während sich mitten in der Stadt noch viele wüste Plätze finden. So kommt es, daß Christiania einen unverhältnißmäßig großen Raum einnimmt, ohne den Eindruck einer modernen Großstadt zu hinterlassen. Neben stattlichen Neubauten gewahrt man noch häufig alte Holzbaracken,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 735. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_735.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)