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Seite:Die Gartenlaube (1882) 455.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

nicht genug that. Sie haben ihn gerade darum auf den schlechtesten Stationen als Cooperator herumgeschickt, und die Haare sind ihm grau geworden, ehe sie ihm die kleine Pfarre hier gaben. Derweil war ihm Mutter und Vater gestorben und ich hatte meine Eltern auch verloren. Ich war eine alte Jungfer geworden, nicht weil ich keinen Mann hätte bekommen können, sondern weil ich keinen haben mochte — ich wußte wohl, warum — und da hab’ ich selber bei ihm angefragt, ob er mich als Wirthschafterin gebrauchen könne. Er hat ‚Ja‘ gesagt, und so lebe ich denn an die zwanzig Jahre unter seinem Dache, und hab’ ihm gethan, was ich ihm an den Augen absehen konnte, und er hat’s auch gewußt, wie lieb ich ihn gehabt.“

Gertrud beugte sich zu dem Todten nieder, küßte ihn auf die Stirn, und eine Thräne fiel auf seine erstarrte Wange hart neben den Weihwassertropfen, und verlief sich mit diesem in eins. Welcher von beiden war geweihter?

Reinhold stand vor der Pfarre, aber das Herz war ihm zum Zerspringen voll; die schlichte Erzählung Gertrud’s hatte seine Seele in ihren tiefsten Tiefen aufgewühlt. Was hatte er in den wenigen Tagen seines Aufenthalts in der Heimath nicht Alles empfunden! Und Alles rüttelte mächtig an dem Bau, den die Lehrer in seiner Brust errichtet. Die Philosophie des Lebens trat in schneidenden Gegensatz zu jener der Scholasten; der Gedanke, daß man Gott auch dienen könne ohne Brevier und Ordenskleid, brach sich Bahn in Reinhold’s Seele.

Er wanderte im Abenddunkel um das Städtchen und ließ das Gewitter in seinem Innern ausstürmen; durchnäßt vom Sprühregen kam er zum Petersthor herein, aber er sah auch diesmal nicht nach den Fenstern der Villa Günther empor. — Er las auch heute wieder bei nächtlicher Lampe den „Nathan“, und das Buch wurde ihm immer lieber — es war so das Vermächtniß eines theuren Todten.

Am anderen Tage versah er wieder sein Akolythenamt; ein Cooperator aus der Nachbarschaft fungirte an des Pfarrers Stelle, aber er übte die heiligen Gebräuche so flüchtig und handwerksmäßig-mechanisch, daß Reinhold darüber empört war und es vorzog, am Abende, bei der Feier der Auferstehung, neben seinen Eltern in dem Kirchenstuhle zu sitzen. Die Kirche glänzte im Schein der vielen Kerzen; Weihrauchwirbel dampften um die Altäre, und Pauken und Trompeten kündeten vom Chore den Sieg des Erlösers über Tod und Grab. Und aus dem Jubelsturm der Instrumente klang die schöne Frauenstimme wieder heraus:

„Lobsinge, Herz, dem Jubeltag!
Auch Du wirst auferstehen.“

Da war es Reinhold mit einem Male, als ob eine Fessel gesprungen wäre, die ihm um Haupt und Herz lag; er hätte mitjauchzen mögen mit der silbernen Stimme, und doch hielt er den Athem an wie in süßer Beklemmung.

Auferstehung! Er fühlte, wie sein Herz sie feierte, und er drückte die Hand des Vaters, der ihn verwundert ansah.

Nach der Kirche sprach er mit dem alten Rittmeister, der ihn bat, für den Ostersonntag wieder sein Gast zu sein, und Reinhold nahm die Einladung an.

Der Osterfesttag, an welchem nach dem Volksglauben die Sonne drei Sprünge macht, brach an mit Glanz und Licht. Der Cooperator celebrirte das Hochamt, Reinhold aber stand in einer dunklen Ecke der Kirche und dachte an den todten Pfarrer und betete still für sich hin. Ihm war seltsam selig zu Sinne, und freundlicher als je grüßte er alle Leute, als er die Kirche verließ.

Am Mittag saß er mit dem Rittmeister und Eva zu Tische, und fröhlich ging das Gespräch hin und her; auch des Todten im alten Pfarrhause wurde gedacht, und es that Reinhold wohl, als er dessen unbeschränktes Lob hörte. Auch diesmal zog sich der alte Officier zurück zu seinem Mittagsschläfchen und ließ die beiden jungen Leute allein.

Da kam eine merkwürdige Befangenheit über Reinhold; es wollte ihm nicht einfallen, was er sprechen sollte, und auch das Mädchen war wundersam still. Und er bat, wieder zu singen, dasselbe Lied, welches sie am Sonntag Palmarum gesungen hatte.

Sie willfahrte, aber ihre klare Stimme vibrirte heute. Er saß nicht fern von ihr und sah ihr in’s Gesicht; der Sonnenschein flimmerte auf ihren glänzenden Haaren; ihre weißen Hände lagen auf den Tasten, und leise hob und senkte sich ihre Brust; sie sang mit der einfachen Volksmelodie wieder das Lied vom treuen Herzen.

Reinhold saß regungslos, nur in den Augen stand ihm ein feuchtes Glänzen, als die letzte Strophe durch das Zimmer klang:

„Sein Vergnügen steht alleine
In des Andern Redlichkeit,
Hält des Andern Noth für seine,
Weicht nicht, auch bei trüber Zeit;
Mir ist wohl bei höchstem Schmerze;
Denn ich weiß ein treues Herze.“

Der letzte Accord verklang; Eva ließ die schlanken Hände gefaltet in den Schooß niederfallen; einen Augenblick war es tiefstill in dem Gemache, sodaß man das Athemholen der beiden jungen Leute hören konnte; dann blickte Eva auf und sah mit den großen, freundlichen Kindesaugen herüber nach Reinhold. Der aber wußte nicht, wie ihm geschah; er wußte auch kaum, was er that, aber er lag in demselben Momente vor der Gespielin seiner Jugend auf den Knieen und barg sein glühendes Gesicht in den Falten ihres Gewandes; dann hob er das Antlitz und lachte und weinte in einem zu ihr empor und flüsterte: „Meine liebe Eva!“

Und die weißen, zitternden Mädchenhände legten sich auf seine Stirn und beugten ihm sachte das Haupt zurück, zwei braune, flimmernde Augen blickten in die seinen, und zwei rothe, süße Lippen sprachen: „Ein getreues Herze wissen!“ — —

Am Ostermontag trug man den alten Pfarrer zur letzten Ruh; die Sonne leuchtete ihm in’s Grab voran, und die ersten Frühlingsvögel zwitscherten hinein in den Choral der Glocken und der Sänger. An dem Erdhügel aber standen Reinhold und Eva bei einander; er trug jedoch nicht mehr das Collare, das Abzeichen der katholischen Theologen.




Blätter und Blüthen.

Auch ein Sclave des Tabaks. Meine Erzählung datirt aus dem letzten Kriege gegen Frankreich. Für ihre volle Wahrheit verbürge ich mich und kann „noch lebende“, glaubwürdige Zeugen beibringen.

Ich stand als Officier bei der Feldartillerie des vierten Armeecorps. Bei meiner Batterie befand sich ein alter, bereits achtzehn Jahre dienender Trompeter. Sturm, so hieß er, war eine bekannte Persönlichkeit im ganzen Regimente; denn schon sein Aeußeres hatte etwas in die Augen Fallendes. Wenn ich sage, er sah etwa so aus wie ein in preußische Artillerieuniform gesteckter Turco, so glaube ich, ihn am besten gemalt zu haben. Sein Teint war stark gebräunt; seine Augen blitzten wie Steinkohlenperlen, und sein schwarz-brauner Schnurrbart hing ihm in zwei dicken Wulsten bis zum vierten Waffenrockknopfe auf die Brust herab.

Wenn die Batterie in den längeren oder kürzeren Ruhepausen, die ja in jedem Kriege eintreten, zuweilen bespannt exercirte und der „alte Sturm“, wie er allgemein im Regimente genannt wurde, auf seiner hellbraunen Stute Sahra, mit seinem langen im Winde flatternden Barte bei der Batterie hin und her jagte und seine Signale scharf und schneidig in die Luft schmetterte — dann achteten die müßig zuschauenden französischen Einwohner nicht auf die schmucken Officiere, nicht auf die galoppirenden Pferde und nicht auf die blanken über den harten Angerboden dahindröhnenden Feuerschlünde — Aller Blicke hingen nur an dem martialischen, wie ein finsterer Dämon dahinsprengenden alten Sturm.

Dieser originelle Mann war aber nicht nur ein firmer Trompeter und tüchtiger Reiter, er war auch ein allezeit lustiger und schneidiger Feldsoldat. Diese Eigenschaft wurde ihm bei der Batterie um so höher angerechnet, als man wohl wußte, daß er ein „zahlreicher“ Familienvater und nicht hervorragend glücklich verheiratheter Gatte war. Deshalb erfreute er sich auch der Achtung aller seiner Vorgesetzten und Cameraden, und die Officiere behandelten ihn mehr freundschaftlich als streng dienstlich.

Sturm war ein in jeder Beziehung nüchterner Mensch. Ich habe ihn während des ganzen langen Krieges nur ein einziges Mal betrunken gesehen — damals allerdings ordentlich! Es war am Geburtstage unseres Heldenkaisers. Da Sturm es zu Ehren seines obersten Kriegsherrn gethan hatte, so konnte ihm deswegen gewiß Niemand gram sein.

Eine Leidenschaft aber besaß Sturm, und diese war geradezu beispiellos. Er war ein Schnupfer — Schnupfer in der eminentesten Bedeutung dieses Wortes! Der liebe Gott hatte ihn auch, damit er sich diesem Genusse in ergiebigster Weise hingeben konnte, mit einer gewaltigen Adlernase ausgestattet, aus der zur Noth zwei, jedenfalls aber anderthalb gewöhnliche Nasen gemacht werden konnten. Er schnupfte täglich zwei Loth, das ist — für Nichtschnupfer bemerkt — ein ganz enormes Quantum.

Dementsprechende Dimensionen hatte denn auch seine Dose, vom Lieutenant G. „der Torfkasten“ getauft. Ich selbst schnupfte damals noch nicht und habe mir erst später das Schnupfen angewöhnt zu Ehren eines lieben Freundes, der mich mit einer kostbaren Dose beschenkte, aber ich nahm doch, um Sturm damit mein Wohlwollen auszudrücken, ab und zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_455.jpg&oldid=- (Version vom 10.7.2023)