Verschiedene: Die Gartenlaube (1882) | |
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Sehr ernst und sichtlich gerührt ging er von Einem zum Andern, hatte für Jeden ein herzliches Wort oder ein freundlich aufmerksames Gehör, wo man sich noch in der letzten Minute die Protection des in eine so einflußreiche Stellung Gelangenden sichern wollte, aber dabei schweifte doch sein Blick manchmal plötzlich zur Seite, als ob er die Anwesenden mustere oder noch Jemand erwarte.
Da mit einem Male erhellte sich sein Auge, und dem Commandanten der Garnison, mit welchem er eben gesprochen, nur eine hastige Entschuldigung zuwerfend, wendete er sich der Eingangsthür zu, aus der eben Franz heraus getreten war.
„Du meinst also, daß Du von Waltershofen so holländisch davon gehen könntest?“ redete ihn dieser an. Was aber ein Versuch zum Scherze sein sollte, klang recht schwer und trüb.
Während sich die beiden Freunde die Hände drückten, zuckte Meinhard plötzlich und machte von Neuem eine rasche Wendung; denn hinter Franz tauchten nun Arm in Arm zwei zarte Frauengestalten auf.
„Wir fürchteten schon zu spät zu kommen, aber die Pferde haben doch noch tüchtig ausgegriffen,“ rief Mimi lebhaft.
Hilda sagte kein Wort; sie war sehr bleich und bewegt, und wäre der Schleier nicht bis zur Hälfte über das Gesicht herabgezogen gewesen, so hätte man an ihren Wimpern noch den Rest hinweggewischter Thränen flimmern sehen.
Meinhard begrüßte sie stumm.
„Ich konnte ja nicht erwarten,“ wandte er sich abermals zu Franz, indem er nur durch eine Gewaltanstrengung seine unsichere Stimme beherrschte, „ich konnte nicht erwarten, daß nach den heutigen Vorgängen – nach den Vorgängen in den letzten Stunden,“ verbesserte er sich, „Jemand von Euch noch Zeit und Stimmung finden würde –“
„Du weißt also schon?“ unterbrach ihn Franz.
„Soeben hat mir Doctor Schöller mitgetheilt – –. So traurig es ist, genau betrachtet, lieber Freund, muß man doch vielleicht sagen – es ist dem armen abgehetzten Manne die Ruhe zu gönnen.“
Franz nickte zu dem gutgemeinten Troste. Man sah ihm an, daß er innerlich bewegt war.
„Ja ja, ich weiß wohl,“ sagte er traurig. „Es ist alles gut, was ist, weil es ist, wie die Philosophen sagen. Aber daß es so kommen mußte – man hätte doch vielleicht –“
„Quäle Dich nicht mit Selbstvorwürfen, Franz! Was auch geschehen wäre, es hätte nichts mehr geändert. Schon gestern sagte mir Schöller, er besorge, daß Wilhelm nicht lange mehr leben werde. Sein Herzleiden sei zu weit vorgeschritten, es könne allenfalls noch Monate dauern, aber bei der geringsten Aufregung auch ein plötzliches Ende nehmen. Und wie war er in seiner Lage – vor Aufregungen zu behüten?“
„Gestern? – Sie wußten gestern –?“ fragte Hilda überrascht.
„Sobald Doctor Schöller vom Jägerhause zurückkam,“ antwortete Meinhard. „Der alte Herr hielt sich selbst schon für einen Mitschuldigen an der Verheimlichung und wußte sich vor Besorgniß nicht zu fassen. So nahm er denn in seiner Angst seine Zuflucht zu mir –“
„Und lieferte den Flüchtling damit aus,“ meinte Hilda.
„Nein,“ protestirte Meinhard mit Nachdruck. „Ich war zur Stunde nicht mehr an der Spitze des Amtes. Sonst hätte ich gegen meinen ehemaligen Jugendfreund einschreiten müssen. Doctor Schöller wußte das freilich nicht. Für mich aber gewann das Harte, das mich vor noch Härterem bewahrte, ganz andere Bedeutung. Es ist doch wohl alles gut, was ist.“
Hilda erbebte bis in’s Herz hinein. Alles, was gestern vorgefallen, trat ihr wieder vor Augen. O, sie verstand, was er meinte. Und nun war ihr auch der Sinn jener Worte klar, mit denen er ihr das Geld am Morgen eingehändigt. Er hatte genau gewußt, zu welchem Zweck sie es verwenden wollte, und diesen, wie die Dinge lagen, gebilligt, ohne sich unzart in das ihm einmal entzogene Vertrauen gewaltsam wieder eindrängen zu wollen. Und ihn hatte sie für gemüthlos halten können – ihn, ihn!
„O Meinhard!“ mehr brachte sie in tiefer Bewegung nicht hervor, aber auch dieser Laut wurde von dem Gerassel des anfahrenden Zuges verschlungen. Es war ihr, als gingen die schweren Eisenräder über ihr Herz hinweg, und ängstlich umklammerten ihre Finger seine Hand. Scheiden! Schon so bald, so schnell sollte es sein – –!
„Soll ich denn nicht noch einmal wenigstens in Ihr liebes Gesicht schauen dürfen, Hilda?“ bat er.
Und als jetzt die freie Hand den Schleier zurückgeschlagen hatte, da sah er in ein bleiches schmerzentstelltes Antlitz, in zwei schmerzerfüllte verweinte Augen, in die er seine ganze Seele versenkte. Einen Moment lang war’s ihm, als müsse noch ein Wort zwischen ihnen gesprochen werden – aber sie schwieg, und ihm versagte die Sprache jeden Laut. Und was sollte er auch noch sagen? Die Trauer galt ja doch nicht ihm – nur dem Todten waren die Thränen geflossen, und die Hand, die jetzt wie erstarrt in der seinen lag, wiederholte nicht den Druck, der ihm soeben das Scheiden nur noch erschwert hatte.
Er ließ sie los. Es mußte ja so sein.
Noch einmal Franz in die Arme. – „Du schreibst,“ sagte er. „Im Februar komm ich nach Wien.“ Dann hastig noch diese und jene Hand gedrückt, nach hier und dorthin einen Gruß und dann rasch in den Wagen, wo der Diener schon Ueberrock und Reisedecke bereitlegte. Hinauf! – „Glückliche Reise! Glückliche Reise!“
Aus Hilda’s Augen rannen plötzlich Ströme von Thränen. Schwankend klammerte sie sich an ihres Bruders Arm.
„Führ’ mich hinweg, Franz!“ stöhnte sie. „Mir ist zum Sterben.“
Während der Scheidende von seinem Sitze aus nach allen Seiten winkte und nickte, glitt sein Auge noch einmal zu Hilda hinüber. Aber kein wehendes Tuch, kein letzter Gruß – sie war verschwunden. Warum war sie gegangen? Man blickt doch dem scheidenden Freunde gern noch so lange nach, wie der entschwindende Zug noch sichtbar ist. Und sie hatte auch nicht die winzige Minute mehr auszuharren vermocht! Fürchtete sie dieselbe dem Glücklichen zu entziehen, der sie daheim erwartete – Edwin? Was hätte der Beneidenswerthe an der einen Minute verloren – er, dessen wonniges Eigenthum die ganze Zukunft blieb? – So fahr’ denn wohl, Traum eines Lebens!
Da huschte flink, wie eine Eidechse, noch eine schlanke Gestalt durch die dem Waggon zugewendete Gruppe der Herren, hüpfte über das nächste Geleise und war mit einem kleinen Sprunge auf dem Laufbrette. Gleich darauf tauchte Mimi’s frisches Gesichtchen an dem Fenster auf und sah mit wichtigen Augen zu dem überraschten Meinhard empor.
Das Kind also hing noch am treuesten an ihm! Das war ein Tropfen Rührung in die aufwallende Bitterkeit.
„Onkel Meinhard,“ begann die Kleine mit fliegender Hast, in dem Geräusche der Stimmen und zuschlagenden Thüren kaum verständlich, „Onkel Meinhard, Sie müssen nicht böse sein, aber mit unserer Heirath wird es nun wohl doch nichts. Ich kann nicht; denn ich habe schon Edwin mein Wort gegeben. Es thut mir leid, aber es geht wirklich nicht; das wollt’ ich nur noch sagen, damit Sie nicht am Ende wiederkämen, und darum bin ich auch eigens mit hierhergefahren. Aber nicht wahr, Sie tragen mir’s nicht nach, Onkel?“
„Edwin, Kind? Edwin? – Was ist es aber dann mit Hilda’s Brautschaft?“
„Zu Ende, zu Ende, lieber Onkel! Ist Alles nur ein Irrthum gewesen, ein Irrthum!“
„Was sagst Du? Wie ist das? – Du selbst irrst Dich gewiß, mein Kind!“
Die Kleine konnte nicht zur Antwort kommen, da der Schaffner sie eben gebeten hatte, zurückzutreten; sie sprang vom Laufbrett herab. Meinhard war kaum seiner selbst noch Herr. Edwin und Mimi ein Paar? Hilda frei? Und er sollte reisen – reisen in diesem Moment? Alles kochte in ihm; er öffnete nochmals die Thür und sprang rasch gleichfalls zur Erde.
„Ist es auch volle Wahrheit, Mimi? Nicht vielleicht ein kleiner Scherz?“ wiederholte er dringender seine Frage.
„Ich werde doch nicht so kindisch sein! Mit solchen ernsten Dingen treibt man keinen Scherz.“ Sie faßte seine Hand, indem sie mit ihm ein paar Schritte bei Seite trat. „Ach, Onkel Meinhard, lieber Onkel Meinhard, ich freue mich so unendlich. Es ist zwar recht traurig – das mit dem Todesfalle im Jägerhause – aber ich kann doch nicht immer weinen, und ich bin so glücklich – o so glücklich!“
„Aber ich verstehe noch immer nicht, was ist denn eigentlich geschehen? Es ist ja gar nicht möglich!“
„Doch, doch! Papa selbst hat nichts eingewendet. Er war
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_203.jpg&oldid=- (Version vom 3.1.2023)