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Seite:Die Gartenlaube (1881) 590.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

weit aus einander.“ Sie schwieg und blickte sinnend vor sich nieder; dann sagte sie in warmem Tone: „Beide sind mir an’s Herz gewachsen. Und daß Sie jetzt den Einen zu sich nehmen, während mir die Andere bleibt, ist so viel lieb.“

Die Innigkeit der letzten Worte rief Fügen ganz und gar alte Zeiten zurück. Er sah liebreich auf Jana nieder, und während sie leichten Fußes neben ihm herschritt, regten sich halb vergessene Wünsche und Gedanken in seinem Innern – nicht laut genug, um zu Worte zu kommen, aber bewußt genug, um die Anziehungskraft, welche das liebe Mädchen stets auf ihn geübt, in sanfter Macht wirken zu lassen. Beide empfanden kein Bedürfniß weiterzusprechen, nachdem Wort und Blick so wohlthuend getauscht worden; still wandelten sie neben einander her, Fügen im Vollgefühl eines innerlichen Ausruhens nach Tagen, die ihm ewig wechselnde Stimmungen aufgedrängt.

Inzwischen hatten Mutter und Sohn einen ziemlichen Vorsprung gewonnen und waren im Begriffe die Höhe zu ersteigen, welche zum Aussichtspunkte führte. Vom höchsten schmalen Plateau ragte die Thurmspitze des Kirchleins über dunklen Föhren auf.

Genoveva, etwas ermüdet vom weiten Gange, ließ sich auf einen Block zum Sitzen nieder und blickte hinab zum nahen heiteren Thalgrunde, der mit vereinzelten Häusern und Höfen übersäet war. Die rothen Eckthürmchen eines schönen Edelsitzes inmitten dieser zerstreuten Gehöfte verliehen dem Bilde besondere Frische; am Saume des Waldgebietes drängte sich die lichtgrüne Ache mit Schäumen und Brausen durch ein enges Felsenbett dem Inn entgegen, und gleich einem Wall ragten westwärts die Wilden Kaiser in golddurchschimmertem Blau. Die Sonne stand bereits so niedrig, daß jeder Grashalm glitzerte und gleißte; ein Funkeln ging über die in Farben erglühende Welt.

„Die Sonne ist Dir hold,“ sagte Genoveva, indem sie den Kopf nach Siegmund wendete, der ihr zur Seite stand. Sein Blick war aber nicht auf das in Gold und Purpur niedergehende Tagesgestirn gerichtet; er stand abgekehrt, der vom Inn durchflossenen Thalseite zugewendet; dort dämmerten die unter tiefblauen Schatten schon beinahe verschwindenden Umrisse der Moosburg. Als der Mutter Auge ihn traf, füllte sich das seine mit blitzenden Tropfen. Er warf sich plötzlich vor ihr auf die Kniee, umschlang sie mit beiden Armer und rief in leidenschaftlicher Inbrunst:

„Meine herrliche Mutter!“

Beider Blicke tauchten in einander mit einem Ausdruck heißer, tiefer Zärtlichkeit, für die es keine Sprache in Worten giebt.

Erst als nahende Stimmen und Tritte zwischen den Tannen vernehmlich wurden, ließ er die Mutter aus seinen Armen.

„Wir sehen uns wieder!“ sagte Genoveva in einem Tone, welcher den Knaben durchschauerte. „Bis dahin laß’ uns an Einem fest halten: Mein Leben gehört Deinem Glück, das Deinige – der Ehre!“

„Der Ehre!“ wiederholte er stark, indem seine schlanke Gestalt sich hoch aufrichtete. „Ich gelobe Dir, Mutter, daß Du auf mich stolz werden sollst.“

Er stand von Licht umflossen. Alle Höhen ringsum entzündeten sich im Purpur der glorreich niedergegangenen Sonne. Schweigend hatten sich die Uebrigen den Beiden zugesellt, und auch nachher, als die vereinte Gruppe die kleine Wegstrecke nach dem höchsten Plateau gemeinsam zurücklegte, wurden nur wenige Worte laut.

Als Genoveva, der Fügen nun zur Seite ging, um die Capelle bog, um den hier jäh abfallenden Berghang zu erreichen, bezeichnete sie ihrem Begleiter durch einen Wink der Augen einen Mann, welcher mit Hacke und Spaten in dem zu einer Art von Garten abgesteckten Viereck arbeitete, welches spärlich mit Feldfrüchten angebaut war. Der schon ziemlich bejahrte, aber noch rüstige Mensch trug eine braune Kutte aus grobem Loden und richtete den barhäuptigen kahlen Scheitel auf, als er nahende Schritte vernahm. Sobald er Genoveva ansichtig wurde, warf er sein Arbeitsgerät aus den Händen und lief mit weiten Schritten in das der Capelle angebaute kleine Küsterhaus.

Genoveva hob den stolzen Kopf und sah Fügen an.

„Nun,“ sagte sie mit bitterem Lächeln, „mein Anblick versteinert wenigstens nicht, gleich dem der Medusa.“

(Fortsetzung folgt)




Schule und Haus.

Von Waldemar Sonntag.


Die Erziehung der heutigen Jugend hat eine gewisse Aehnlichkeit mit der Pädagogik des Alterthums, insofern sie die engen Grenzen einer häuslichen Angelegenheit überschritten hat und zu einem Gegenstande der öffentlichen Aufmerksamkeit und Fürsorge geworden ist. Demgemäß wird unter den Erziehungsfactoren derjenige am meisten genannt und am eifrigsten der Beurtheilung unterzogen, dessen Bedeutung am weitesten in die öffentlichen Dinge hineinragt: die Schule.

Beinahe in allen Volksvertretungen der deutschen Staaten macht sich der Kampf um die Selbstständigkeit der Schule geltend. Auf der einen Seite wiederholt die Kirche ihre grundsätzlich niemals aufgegebene Forderung, der Schule Plan und Richtung auch in solchen Lehrgegenständen vorzuschreiben, die nicht unmittelbar mit dem Religionsunterrichte zusammenhängen; auf der andern Seite bemühen sich freisinnige Männer, denen der Clerus ein wenig geeigneter Führer zu edler Bildung zu sein scheint, die Unterrichtsstätten dem Schatten der Kirche zu entziehen.

Dem aufmerksamen Beobachter will es aber scheinen, als ob über die Frage: wie haben sich Schule und Kirche aus einander zu setzen? die Bedeutung einer anderen Erziehungsfrage allzu gering geschätzt werde, der Frage: wie haben Schule und Haus sich in ihrer gemeinsamen Erziehungsarbeit zu ergänzen? Es thut Noth, daß neben der Schule auch das Haus seine unerschrockenen Fürsprecher und besonnenen Hüter finde. Darum seien im Bewußtsein redlicher Absicht einige Bemerkungen über das normale Verhältniß der Schule zum Hause, des Hauses zur Schule hier gewagt – Bemerkungen, die keinen andern Anspruch machen als den, flüchtige und wohlmeinende Andeutungen zu sein.

Daß die öffentliche Schule zu einer gedeihlichen Entwickelung der Geistesgaben, wie zur wirksamen Ausbildung des Charakters so gut wie unentbehrlich sei, wird heute allgemein zugestanden, und nur mit verschwindenden Ausnahmen der öffentliche Unterricht dem privaten vorgezogen. Hat doch die Erkenntniß, daß der öffentliche Schulunterricht die unvergleichlich zweckmäßigste Grundlage tüchtiger Mannesbildung sei, sich sogar in solchen Kreisen Bahn gebrochen, welche dieser Einsicht bisher zu widerstreben schienen. In ganz Deutschland ist es mit Genugtuung bemerkt worden, daß der Kronprinz von Preußen seine beiden ältesten Söhne dem Gymnasium in Kassel zum regulären Unterricht anvertraut hat.

Also in die Schule müssen nun einmal unsere Kinder. Der Tag, all welchem wir sie zum ersten Mal in das große Haus mit der weiten Thür führen, pflegt als ein festlicher vom Hause begangen zu werden. Es schmeichelt unserer Eitelkeit mit Recht, den Beziehungen unseres Lebens diejenige zur Schule hinzufügen zu dürfen, und die Kleinen kommen sich wichtig genug vor, wenn sie mit dem nagelneuen Ranzen und der neugierig beschauten Fibel, die ihnen noch ein Buch mit mehr als sieben Siegeln ist, freudig die große Reise in die Schule antreten. Allein schon der zweite Tag belehrt sie, daß die Sache nicht so lustig weiter geht, wie sie anfing, sondern daß des Stillsitzens und Aufmerkens kein Ende mehr ist. Wie groß muß das Vertrauen sein, das der Staat von den Eltern für die Schule in Anspruch nimmst indem er fordert, daß sie ihre Lieblinge Tag für Tag stundenlang der Obhut derselben in einem Alter übergeben, in welchem die Unmündigen noch der gewissenhaftesten leiblichen Pflege und sittlichen Führung bedürfen! Neben das Wort des Vaters tritt nun als ebenbürtig das Geheiß des Lehrers, und die Hand der Mutter wird durch die der Lehrerin abgelöst. In dieser ersten Zeit des Schulbesuchs kommt es vor allen Dingen darauf an, daß die Schüler zu den Personen der Lehrer ein annähernd ähnliches Verhältniß des Vertrauens und der Hingebung gewinnen, wie es den Kindern ihren Eltern gegenüber angeboren ist, und daß sie in den ohnehin meist schmuckarmen und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 590. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_590.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)