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Seite:Die Gartenlaube (1881) 276.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

„Da fürchte nichts,“ versetzte Vater Lanken; „ich bin, was Rechtssachen angeht, drüben auch ein smart fellow geworden. Aber Du sollst sie sehen.“

Er ging mit Aurel in’s Haus und in sein Zimmer hinauf; hier schloß er seinen Secretär auf, aus dem er eine mit Papieren gefüllte Brieftasche nahm. Daraus holte er zwei gestempelte und halb bedruckte, halb beschriebene Papiere hervor. Das eine war eine mit dem Siegel eines „Court of common Pleas“ und der Unterschrift eines Gerichtsbeamten versehene Licenz und Erlaubniß zur Heirath, ausgestellt für Ludwig Baron Gollheim und Lily Lanken, „Spinster“; das andere war eine vom „Minister of the Gospel“ an einer der lutherischen Kirchen zu Brooklyn ausgestellte Bescheinigung über die am 11. April des Jahres 187. stattgefundene Trauung der beiden jungen Leute.

Dawider war nichts zu sagen; Aurel bemerkte nur, daß beide Documente vielleicht zurückgeschickt werden müßten, nun die Beglaubigung von Seiten der deutschen Diplomatie drüben zu erhalten – doch werde sich das später herausstellen. Er gab dem Vater die Blätter zurück und ging, sich von Lily zu verabschieden. Er versicherte ihr, daß er bald zurückkehren werde, was Lily hocherfreut, ihm ihre Stirn zum Kuß bietend, aufnahm.

Als Aurel das Haus Schallmeyer’s verlassen hatte, wandte er sich der um diese Stunde immer sehr einsamen Stadtpromenade zu, um auf ihr, welche den Ort umkreiste, wieder zu seinem „alten Schloß“ zurückzugelangen.

Er ging langsam, die Hände auf dem Rücken und trübsinnig zu Boden blickend, vorwärts. Es war eine dunkle Stunde in sein Leben getreten, trotz der heiteren, reizenden Erscheinung, welche so plötzlich seinen Lebensweg gekreuzt und den Reichthum seiner Gemüthswelt mit der Gabe einer Schwester, der Liebe einer Schwester vermehrt hatte; denn gekreuzt hatte Lily doch auch im eigentlichsten Wortverstande seinen Lebensweg; sie hatte seine eigenen persönlichsten Gefühle plötzlich wie durchschnitten, und grausam, ohne daß Lily es ahnte, bedrohte ihre Erscheinung seine schönsten Lebenshoffnungen mit Vernichtung. Eine wunderliche verwirrende Lage war es, in die er gebracht worden. Diese unvermuthete Rückkehr seines Vaters hatte ihn erst erfreut, dann auch wieder erkältet wegen der wunderlichen Marotten des alten Herrn, bei denen er mit Schrecken daran gedacht hatte, wie Graf Gollheim sie aufnehmen würde, bis am gestrigen Abend noch ein Brief Regina’s ihm gesagt hatte, wie diese Aufnahme ausgefallen – viel, viel ärger noch, als er gefürchtet! Aber Regina’s Brief hatte ihn auch getröstet; das charakterstarke, edle junge Mädchen, das er so leidenschaftlich, mit der ganzen Gluth des gereiften Mannes liebte, hatte ihm deutlich genug ausgesprochen, daß sie kein Wanken und keinen Wechsel ihrer Gefühle kenne, und so hatte er während einer schlaflosen Nacht noch mit hoffender Zuversicht in die Entwickelungen der Zukunft schauen und ihnen eine günstige Wendung in seinem und Regina’s Schicksal anheimstellen können.

Aber dann war sein Vater an diesem Morgen mit seinen furchtbar überraschenden Enthüllungen gekommen, Enthüllungen, die das ganze Gebäude seiner Glückshoffnungen über den Haufen geworfen, und ihm nichts übrig ließen, als Fassung zu suchen bei dem Gedanken, daß ihm keine Wahl übrig gelassen sei, bei dem Gedanken des Muß, des kategorischen Imperativs der Pflicht. Es war ja noch ein Glück, daß sie so klar, so unausweichbar, so verzweifelt einfach vor ihm lag, daß er sich das Hirn nicht zu zerquälen brauchte mit Suchen, mit Fragen, mit Ausklügeln von Auskunftsmitteln. Nein, er mußte seine Pflicht thun. Seine Schwester war Ludwig Gollheim’s Weib geworden. Er war ihr Bruder. Er mußte für ihre Rechte eintreten. Mochte er den Grafen Gollheim sich zum Todfeinde machen, weil er ihn zwang, geschehene Dinge als geschehen hinzunehmen, mochte er dadurch eine ewige Scheidewand aufrichten zwischen sich und Regina, denn eine gewisse aristokratische Denkungssart, ein Adelsbewußtsein, das für ihren Bruder, den Stammhalter der ganzen Gräflichkeit, eine andere Verbindung forderte, lag doch auch wohl in Regina – es war da kein Ausweichen, kein Drehen und Deuteln an dem, was Pflicht war: er mußte die Rechte der Schwester schützen, sich auf die Seite, seines Vaters stellen, auf die Seite, wohin ihn die Natur gestellt hatte. Die Natur – ja! Es ist die Natur der Liebe, daß sie treibt, Vater und Mutter zu verlassen und – dem Weibe zu folgen. Und mit seinem innersten Wesen, mit seinem Gedanken- und Gefühlsleben gehörte er Regina an, seine ganze Seele war bei ihr, folgte ihr. Er war erst so spät im Leben dem Wesen begegnet, das er lieben konnte, in dem er täglich mehr jene platonische Seetenhälfte, die ihn bisher niemals aus den Augen eines jungen Mädchens angeschaut hatte, zu finden geglaubt. Und hatte doch auch Regina mit ihren Charakterernst, ihrem scharf den Schein vom Wesen trennenden Verstande die Jahre an sich vorübergehen lassen, ohne daß eines ihr den Bewerber, dem sie ihr Schicksal hätte anvertrauen mögen, gesandt hatte. Aber nun war den beiden ernsten Menschen das Gesicht für einander desto mächtiger gekommen, nun hatte es desto mehr von ihrem ganzem Wesen an sich gerissen, und sie jener Sclaverei des Herzens unterworfen, zu der die Leidenschaft so leicht im reiferen Gemüth erstarkt.

Aber Regina war noch nicht sein Weib, nicht einmal seine erklärte Braut. Es war keine Wahl: er mußte die Natur, die ihn zum Sclaven machen und ihm sein Opfer als eine Unnmöglichkeit erscheinen lassen wollte; in sich zu besiegen wissen. Es darf für den Mann keine Unmöglichkeit einer Pflichterfüllung geben. Er war auf einen Platz im Leben, in ein Amt gehoben worden, dessen idealer Gehalt nichts anderes war, als Schutz und Wahrung des Rechts im Staate – dieser Gedanke mußte seine Kraft stählen bei dem schweren Schritt, den er zu thun im Begriff stand: noch heute, spätestens morgen, wollte er eine Unterredung mit dem Grafen Gollheim suchen.

(Fortsetzung folgt.)




Thomas Carlyle.

Von Rudolf von Gottschall.

Ein deutsches Volksblatt hat nicht die Pflicht, aller ausländischen Größen zu gedenken, wohl aber derjenigen, welche deutschem Geist und deutschem Wesen mit Begeisterung gehuldigt und zur Anerkennung desselben bei fremden Nationen beigetragen haben. Ein solcher Vermittler der deutschen Literatur mit der englischen, ein solcher begeisterter Verehrer unserer großen Denker und Dichter ist der jüngst verstorbene Schotte Thomas Carlyle, zugleich einer der orginellsten Schriftsteller des neuen England, ein Selbstdenker von großer Unabhängigkeit und Kühnheit, ein Historiker von dem glänzendsten Colorit, ein Autor, der von Einigen als ungenießbar und als phantastischer Wirrkopf verschrieen, von Anderen gepriesen wird als einer der genialsten Anwälte des Idealismus in einem, wie er selbst sagt, „mechanischen“ Zeitalter.

Thomas Carlyle war am 4. Dec. 1795 in Ecclefechan, im Süden Schottlands, geboren, als Sohn eines Farmers, eines Mannes von Verstand und Witz. Zuerst besuchte er die Dorfschule, dann das Gymnasium zu Annan; seine Lehrer waren Pedanten; so schildert er sie in seinem „Sartor resartus“, einem Werk, in welches so Vieles über seine Jugendjahre und seine eigene geistige Entwickelung hineingeheimnißt ist. Auch die Professoren der Universität Edinburgh, die er 1809 bezog, waren von demselben Schlage. Carlyle sollte Theologie studiren; doch seine Neigung zog ihn zur Mathematik, zu Sprach- und Literaturstudien, und auf der Bibliothek war er bald besser zu Hause, als ihre Pfleger. Lange schwankte er in der Wahl seines Berufs; eine Zeit lang, im Jahre 1814, war er Gymnasiallehrer der Mathematik in Annan, dann in Kirkaldy am nördlichen Ufer des Firth of Forth. Innerlich machte er religiöse Kämpfe durch und konnte sich zuletzt nicht für die theologische Laufbahn entscheiden, obschon die Sittenstrenge und der Ernst des schottischen Puritanismus für ihn viel Anziehendes hatte und auch seinem Naturell keineswegs fremdartig war. Wir finden ihn dann als Privatlehrer in Edinburgh; mit Stunden und Uebersetzungen verdiente er sich seinen Lebensunterhalt.

Unentschlossen über den zu wählenden Beruf, lebte Carlyle dann wieder in der ländlichen Stille seines Geburtsortes. Ein weitgereister Freund, der in Deutschland gewesen war, weihte ihn in die deutsche Sprache ein: das wurde entscheidend für seine nächste literarische Thätigkeit. Mit wahrem Feuereifer gab er sich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 276. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_276.jpg&oldid=- (Version vom 29.4.2022)