Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
|
No. 51. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Der Alte schüttelt den Kopf über Strohmeyer's Greifswalder Projecte.
„Johannes, Johannes, wachst nicht über'm Dach hinaus! Ihr paßt sonst mehr in die Stube, und draußen erfriert Ihr. – Wer hoch steigt, kann tief fallen.“
Da lächelt das Mädchen überlegen, und die Augen des Vetters, welche den ihren begegnen, blitzen.
„Oheim, das verstehen Sie nicht,“ sagt er von oben herab und will sich schon erheben, als Rickmann, der von draußen gerufen wird, aufsteht und das Zimmer verläßt, nachdem er, ohne die geringste Empfindlichkeit zu zeigen, dem jungen Manne noch in wenig Worten die herzlichsten Wünsche für seine wichtige Reise mitgegeben und versichert hat, daß, wenn er nicht zum Bürgermeister müsse, er ihn heute Abend gewiß nicht verlassen würde.
Nun sind die Beiden wieder allein.
„Wie hast Du geschlafen, Dorette?“ fragt Johannes und rückt der Base näher.
„Gut,“ flüstert sie, „so gut, wie man nach einem tollen Abend schläft.“
Dann hebt sie das gluthübergossene Gesicht leise herausfordernd zu ihm auf: „Seit wann nennen Sie mich 'Du', Vetter? Es paßt sich nicht.“
„Es paßt sich doch, schöne Base,“ und er fängt sich eine ihrer Hände, um sie fest in den seinen zu halten. „Es paßt sich noch Vieles – Mund auf Mund paßt sich auch. Ich bin Dein Vetter und darf Dich küssen.“
„Laß mich los, Johannes! Du hast kein Recht zum Küssen – Vetter!“ und wie sie das Wort „Vetter“ unwillkürlich betont, fährt sie so heftig zusammen, daß er es an ihrer Hand fühlt.
„Aber gestern ließest Du den Kuß zu.“
„Du hast ihn Dir geraubt.“
„Dorette,“ beginnt er zärtlich, geht aber plötzlich in einen scherzenden Ton über: „Wenn ich von Greifswald wiederkomme, will ich Buße thun.“
Dann erhebt er sich schnell, um zu gehen.
„Leben Sie wohl, Johannes!“ sagt sie liebevoll.
Da packt es ihn noch einmal, als müsse er sie jetzt für immer an sich nehmen. Aber – es wäre zu sehr gegen seine natürlichen Grundsätze: wenn er zurückkommt, wird er ihr Alles sagen; sie wird ihm schon nicht „fortschwimmen“.
„Adieu, süße, schöne Base! Vergiß mich nicht!“
Darauf schütteln sie sich noch einmal die Hand und er geht.
Langsam kehrt sie sich von der Thür ab und setzt das Licht auf den Tisch. Lange starrt sie mit selig leuchtenden Augen hinein und verfolgt das Spiel der rothblauen Flamme, die sich bald glühend nach allen Seiten hin weitet, bald züngelnd schließt.
Dann zieht ein Schatten über ihre Stirn.
„Warum wohl das letzte Wort noch immer hinausgeschoben wird?“ denkt sie und setzt laut hinzu: „Als ob sich das Schicksal fürchtete, einem so viel Glück auf einmal zu geben. – Feige, neidvolle Macht!“
Und doch, wie glücklich ist sie! Als der Alte zurückkehrt, sieht er sie erwartungsvoll an, und als sie schweigt, blinzelt er schlau mit den treuherzigen Augen vor sich hin, als dächte er: „Ja, ja, das ist so das Beginnen der Jugend: für's Erste thun einem alten Manne nichts davon zu wissen.“
Indessen haben seine Worte einen eigenthümlich fragenden Klang, wie er ein Mal über das andere im Laufe des Abends sagt: „Was für ein groß' Glück macht doch Johannes!“
Dann antwortet Dorette hastig allerlei neckisches Zeug, da sie recht gut merkt, wo der Vater hinaus will. Es reizt sie, daß er zu denken scheint, es sei schon Alles im Reinen zwischen ihr und Johannes, und eben deswegen thut sie unwillkürlich, als wolle sie ihr süßes Geheimniß durch lustige Narrheiten verbergen. Merkwürdig, mit welcher List sie dieses Spiel betreibt, als sei ihr des Vaters Glaube Bürgschaft der Erfüllung! Merkwürdig auch, wie sie dann, als der Alte wieder vor ihr zur Schlafkammer geht, mit der Zuversicht leidenschaftlicher Liebe in der Rückerinnerung dieses Abends und in schmeichelnden Zukunftsträumen schwelgt! –
Eine Woche später trifft Dorette Johanne Seiler in der Stadt.
„Nun, Mädchen, wie war es gestern Abend? Du scheinst ja noch ganz gelassen,“ wird sie von der Freundin angeredet.
„Gestern Abend? Es spukt wohl bei Dir, Johanne?“
„Ist er denn nicht bei Dir gewesen?“
„Hanne, wo fehlt Dir's? Er ist ja noch gar nicht zurück. Er meinte, wenn er die Stelle bekäm', würde er dort länger aufgehalten werden. Hanne, Mädchen, wie fügt sich doch Alles günstig! Ich bin ...
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 829. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_829.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)