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Seite:Die Gartenlaube (1880) 814.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


„O Doring, wie kannst Du so bös' Urtheil sprechen, wenn Du Jemanden zum ersten Male im Leben siehst?“

„Bös'? Es ist nicht Jedermannes Sache, gut zu sein!“

Der Alte geht kopfschüttelnd in die Kammer zur Ruhe.

„Gute Nacht, Vater – ich komme auch,“ hat Dorette gesagt, aber sie kommt noch lange nicht. Der Thorschreiber schläft schon eine gute Weile, als sie noch nähend am Tische sitzt. Plötzlich wirft sie die Arbeit eilig zusammen und stößt das Fenster, an dem sie sitzt, weit auf. Gedankenvoll lehnt sie sich über die Brüstung, und wie der scharfe Nachtwind ihr in das heiße Gesicht schlägt, fühlt sie sich unheimlich wohl und behaglich. Ihre Augen dringen hinauf an den gestirnten Himmel, als suchten sie die Lösung eines Räthsels; sie möchte die Arme ausbreiten und an's Meer stürzen. Sie denkt darüber nach, daß Johannes Strohmeyer versprochen hat, nun öfter zu ihnen zu kommen und nebenbei fragt sie, ob er sich wohl, wie Putzbach, in sie verlieben wird. Und wie, wenn auch sie – ? Da kommt es ihr nochmals in den Sinn, daß er nicht gut ist, und sie merkt plötzlich, wie es unangenehm kalt vom Meere heraufweht. Sie zieht sich zurück und schließt das Fenster, aber ehe sie die Lampe löscht und im Finstern zu Bette schleicht, schlägt sie die Hände vor das Gesicht und zieht wieder die Brauen so finster zusammen, wie am Nachmittage auf der Brücke. Aber sie sagt nicht, wie dort:

„Ich möchte wissen, wie die Liebe ist.“

Ueberhaupt denkt sie schon nicht mehr an die Liebe, aber ihr Herz schlägt laut und heftig.

„O, ich wollte reisen! Die Welt sehen! Etwas erleben!“ flüstert sie leidenschaftlich vor sich hin – und sie möchte emporfliegen über die alten Häuser der alten Stadt, in der sie lebt.




4.

Und der Frühling von 1786 geht hin, und der Sommer kommt, gegen dessen Ende der große Preußenkönig wirklich stirbt.

Auch der Sommer schwindet, und der Herbst ist da, der frische klare Herbst, der neue Thatkraft in die Seelen bläst.

Die Zeit der Hoffnung, die Zeit träumerischen Genusses ist vorüber; nur die ewige Sehnsucht bleibt, und weil sie allein das Feld behauptet, wächst sie zum Riesen: In jedem Kranichschrei, der hoch in den Lüften ertönt, in jeder Sturmnacht, welche um die Steinmauern braust, hinter denen die Menschen wohnen, hören diese ihre Stimme. Aber es ist keine weiche Stimme voll süßer Thorheit und voll Schwärmerei – es ist eine Stimme gewaltigen Klanges, die wohl zu ernster Arbeit und zu kräftigem Ausharren paßt, aber jedes Herz hat seine besondere Jahreszeit: Dorette Rickmann sieht in diesen Herbstmonaten mit jedem Tage glücklicher aus: Hoffnung, Sehnsucht, vollkommenster Genuß gießen ihren weichen Schönheitsschimmer über ihre beweglichen Züge. Alles Gute und Große, dessen ihre Natur fähig ist, scheint sich entfalten zu wollen. Sie treibt seltener ihren losen Spott mit Putzbach und seinen Gefährten, und wenn es die Anderen thun, lächelt sie nur mit einem gewissen mitleidigen Wohlwollen; denn es scheint ihr ein dürftiges Vergnügen zu sein, sich über den armen Gesellen lustig zu machen.

Sie benutzt jede Gelegenheit, den Menschen Freude zu machen, wenn sie es gleich in jener wunderlich gleichgültigen Manier thut, welche ihre Freundlichkeit nicht als Güte des Herzens, sondern als bloße Laune erscheinen läßt, und sie kehrt ihrem Vater gegenüber nicht mehr so oft, wie früher, in unvorsichtigen Worten ihre geistige Ueberlegenheit heraus.

Ihr ganzes Leben hat unmerklich einen anderen Gehalt gewonnen; sie hat mit heimlichem Eifer ihre Kenntnisse vermehrt; jede Minute, welche ihr das Hauswesen ließ, hat sie in eiserner Beharrlichkeit zu benutzen gewußt. Sie ist nicht mehr bloße Zuhörerin, wenn Johannes Strohmeyer ihr von der Welt spricht; sie streitet – sie widerlegt ihn.

So lebt sie hin; der Herbst ist ihr nicht Herbst; sie fürchtet keinen Winter. Jeder Tag, der kommt, vergeht ihr wie eine Secunde des Glücks. Sie ist zufrieden, daß ihr Schicksal noch nicht laut ausgesprochen ist. Sie ist sich bewußt, daß der köstlichste Moment des Lebens eben nur ein Moment ist, einer, der nicht wiederkehren kann. Mag die letzte Entscheidung immerhin vor ihren bald haschenden, bald zaudernden Händen entfliehen, einmal wird sie kommen: vielleicht heut, vielleicht morgen, vielleicht in dieser Stunde noch! Es ist keine quälende Ungewißheit; es ist ein süßes, geheimnißvolles Wesen, das sie erfüllt und umgiebt.

Einmal, als sie gerade in solche Stimmung versunken ist, tritt Putzbach zu ihr in's Stübchen. Er sieht noch steifer und feierlicher als gewöhnlich aus und blickt sich halb ängstlich, halb feindselig im Zimmer um, als hätte seine Phantasie jede Ecke mit einem Vetter aus Paris angefüllt, als wären die Zwischenräume rings mit schwedischen Officieren bevölkert.

„Endlich habe ich das Glück, Sie allein zu treffen, Mamsell Rickmann,“ beginnt er mit einer Miene, die seine Worte Lügen straft; denn diese Miene sieht wenig nach Glück aus.

Auf Dorette's Gesicht kämpfen Mitleid und unangenehme Ueberraschung mit einander. Sie antwortet nicht gleich, sondern nöthigt ihn nur mit ungeduldiger Geberde zum Sitzen und beginnt zu spinnen. Eine Weile starrt Putzbach auf die sich rascher und rascher drehende Kunkel, als gäbe es an derselben allerlei welt- und herzbewegende Räthsel zu lösen. Dorette sucht in gewandter Weise über das Peinliche des Augenblicks hinwegzukommen und fragt nach diesem und jenem. Er aber ist nicht im Stande, darauf einzugehen, und weiß endlich keinen anderen Ausweg, als mit der Thür in's Haus zu fallen.

„Sie wissen, Mamsell Rickmann, warum ich gekommen bin,“ sagt er, die Augen krampfhaft fest auf einen Nagel des Fußbodens heftend. Dorette wird zum ersten Mal in ihrem Leben Putzbach gegenüber roth.

„Nein,“ antwortet sie schnell, „aber Sie sind in letzter Zeit ziemlich oft gekommen.“

„Ja, zu oft – ich fühle es – ich habe mich geirrt. Ihre Freundlichkeit – ich bin Ihnen zu oft gekommen. Sie hörten lieber Pariser Hofgeschichten, Mamsell, als das Werben eines redlichen Stralsunder Bürgers. Glänzender mögen sie freilich sein, aber –“

„Freilich hörte ich sie lieber!“ antwortet Dorette und hält ein mit dem Treten des Rades. „Alles ist mir lieber, als Ihr galantes Wesen, Herr. Das hätten Sie längst begreifen sollen. Ich laß mir keine schönen Dinge mehr von Ihnen sagen. Sie langweilen mich! Sie quälen mich!“

„Quäle ich Sie?“ fragt Putzbach mit zitternder Stimme, während Dorette wieder zu spinnen beginnt. Dann ruft er, einen neuen Aufschwung nehmend, plötzlich begeistert aus: „Ich will es nicht mehr thun – und Ihnen keine schönen Dinge mehr sagen; ich bin – lassen Sie mich ausreden, Mamsell! – ich bin auch heute nicht zu diesem Zwecke gekommen – hier, so wahr ich hier vor Ihnen sitze, biete ich Ihnen meine Hand.“

Seine Augen leuchten; er wird kirschroth und streckt bittend die dargebotene Hand aus.

„Und so wahr ich hier vor Ihnen sitze, sage ich Ihnen, daß, wer mir als Liebhaber nicht willkommen ist, es auch als Eheherr nicht ist,“ ruft das empörte Mädchen, während ihr Spinnrad plötzlich von Neuem stockt und der Flachsfaden zwischen ihren beweglichen Fingern zerreißt. „Mag es bei anderen Mädchen anders sein; dies sind meine Gedanken über das Heirathen.“

„Mamsell Dora, seien Sie vernünftig! Schlagen Sie nicht aus Laune eine Partie aus – eine Partie, wie ich sie – wie ich sie, Gott sei Dank, im Stande bin, Ihnen zu bieten. Ja, wie sie vielleicht kein Zweiter in ganz Stralsund bieten kann. Davon wird Ihnen jeder verständige Mann Bescheid abgeben.“

Da erhebt sich Dorette zornig. Und in diesem ehrlichen Zorne erscheint sie dem redlichen Bürger, der erschrocken und einfältig vor ihr zurückweicht, zugleich neu und großartig.

„Genug von diesem Geschäft!“ sagt sie, „Sie verstehen mich nicht, und das ist das beste Zeichen, daß wir nicht für einander bestimmt sind. Für Sie sind andere Frauenzimmer da!“

„Und für Sie andere Männer?“ ruft Putzbach mißtrauisch und endlich doch in tiefster Seele beleidigt aus.

Dorette sieht ihn voll an. „Ja,“ sagt sie mit Nachdruck, und eine heiße, frohlockende Gluth bricht aus ihren Augen. Aber als sie es gesagt hat, schließen sich ihre Lippen so fest und ihre Gestalt nimmt einen so hoheitsvollen Ausdruck an, daß er nicht wagt, weiter zu fragen. Dorette ist so strahlend schön wie nie zuvor.

„Und dies ist Ihr Ernst, Dora? Sie wollen nicht meine Hausfrau werden?“ fragt er nach langer Pause noch einmal.

„Nein,“ sagt sie sanfter, als gewöhnlich; „es ist mir leid, daß Sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatten. Ich hab' Ihnen wahrhaftig in keinerlei Stücken Hoffnung gemacht.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 814. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_814.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)