Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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in Paris gewesen! Hm, hm. Alle Quartal einen Brief geschrieben, wie ihn Euch ein Schreibmeister aus der Stadt nicht feiner zurechtstilisirt, und ein Witz drin, daß Ihr meint, frisch Brunnenwasser spritzt Euch in die alte Visage. Kann jeden Tag mit einem gnädigen Herrn Grafen zurückkommen. Und dann bleibt er in der Stadt und sieht sich im Orgelspiel um, und was sonst zum Geschäft gehört. Und dann – so sollt's doch mit zehn Teufeln zugehen, wenn unser Johanning nicht eine fette Stell' bekäm'.“
Dorette ist aufmerksam geworden, und ihre Blicke heften sich fest auf den sprechenden Alten: das Herz wird ihr groß, wenn sie an Reisen denkt.
„Na, Vetter,“ fährt Strohmeyer fort, „und wann mein Junge erst hier ist, nehmt Euch seiner an! Zwar ist er ein Mann und kein Kind, aber ich denke denn doch, er hat sein altes Insulanerherz wieder mitgebracht und wird seine Verwandtschaft nicht in dem bunten Sündengarten draußen vergessen haben. 's sollt mir doch lieb sein, zu denken, daß er öfter des Abends in des Thorschreibers Bude sitzt. Dann kann er Euch selber sattsam von Allem, was er erlebt hat, Bescheid abgeben.“
Der Thorschreiber nickt und sagt, daß es ihm zu großer Ehre und Freude gereichen würde, wenn der weitgereiste junge Mann mit seiner einfachen Häuslichkeit vorlieb nehme, und Dorette sieht den Vetter schon im Geiste vor sich am Tische sitzen und ihr von den Wundern der berühmten Franzosenstadt erzählen. Sie kennt ihn noch nicht; denn als er vor drei Jahren eines frühen Morgens als Secretär des Grafen auf der Hinreise nach Paris durch's Thor kam, hat sie noch geschlafen, und früher hat es sich auch nicht fügen wollen, daß sie seine Bekanntschaft machte.
„Es kann recht nett werden, wenn der Vetter Johannes öfter kommt,“ meinte sie bei sich selbst und trat schneller denn zuvor das schnurrende Spinnrad.
„Hui! Das fliegt ja, als ob's für Geld ginge oder andern Tags zur Aussteuer im Linnenschrank schimmern sollte,“ neckt der Inspector. „Nicht zu hastig, Mamsell! Das rasche Treten thut Dir Schaden.“
„Das langsame mehr!“ sagt das Mädchen und wirft den Kopf zurück, als wollte sie einen dummen Gedanken abschütteln.
Es ist Tags darauf, als Dorette und einige andere Mädchen von des Bürgermeisters Tochter aufgefordert werden, mit ihr und ihrer reichen Muhme, der verwittweten Frau Consul Gerhard, einen Lustgang in den außerhalb des alten Festungswalles gelegenen großen Kaffeegarten zu machen.
Wie bestimmt worden ist, haben sich die „jungen Frauenzimmer“ beim Bürgermeister versammelt, um von hier aus ihre ältliche Beschützerin gemeinsam abzuholen. Zu diesem Zwecke machen sie sich soeben auf den Weg.
Man hat in diesem Frühjahr kaum einen schöneren Tag gehabt. Die Mädchen sind in bestem Putz und in fröhlichster Laune. Ach, endlich kann man wieder einmal des Sonntags hinaus in den Kaffeegarten! Aber auch durch die Stadt zu gehen, ist heute schon ein Vergnügen. Die alten Giebel sehen doch ganz anders aus, wenn die scheue Aprilsonne sie verheißungsvoll streift, als wenn sie Winters grau und todt mit ihren eisbedeckten Schnörkeln in die schmutzigen engen Straßen hinabstarren.
Und alle Menschen, denen man begegnet, sind so lustig; wenigstens meinen es die Mädchen; denn nicht nur, wie man in den Wald hineinruft, so ruft's heraus – auch wie man den Leuten in's Auge schaut, so schaut's wieder heraus.
„Mädchen, mir passirt heute was!“ ruft Dorette.
„Wenn Du nicht aufhörst, so toll zu sein, Dora, kann Dir's wohl passiren, daß Du wieder, wie im vorigen Jahr, etwas im Garten verlierst, und der arme Herr Putzbach drei Stunden suchen muß, um es Dir wiederzubringen,“ antwortet Johanne Seiler, Dorettens besondere Freundin.
„Ich würde ihm das Vergnügen gönnen!“ und Dorette lacht so spöttisch, daß es den Anderen leid thut.
„Warum bist Du so schlecht zu ihm, Dorette?“ sagt die Kleine mit den stark gepuderten Haaren und den großen, etwas schmachtenden Augen.
„Schlecht auch noch! Ich erlaube ihm, mir in jeder Straße dreimal hinter einander zu begegnen, mich Winters Schlitten zu fahren, mich Sommers zu rudern und mir Almanachverse vorzuleiern, daß es zum Herzbrechen ist – aber vor Lachen – nicht vor Weinen. Er liest wie abgerichtet; der reine Staarmatz! – Außerdem ist es eine gute Empfehlung für einen künftigen Commerzienrath, der seit drei Jahren hinter seines Herrn Vaters Comptoirbüchern sitzt, daß er noch nicht herausrechnen kann, daß er und ich keine runde Zahl machen.“
„Ich möchte wissen, Dora, wen Du noch mal nimmst,“ meint die Kleine mit den Schmachtaugen.
„So – da geht Dir's gerad' wie mir,“ ist die etwas zögernd gegebene Antwort.
Dann lacht Dorette hell auf, und die Anderen antworten ihr im Chor. So geht es über den großen Marktplatz am Rathhause vorbei, dessen Façade mit den spitzen Verzierungen und runden Steinaugen ganz festtäglich schimmert. Aus der unteren, stets nach beiden Seiten der Stadt zu geöffneten Halle, die allgemein als Durchgang benutzt wird, treten eben einige junge Kaufmannssöhne, von denen Zwei in Greifswald Gottesgelehrsamkeit studirt haben. Sie grüßen die Mädchen und sehen Doretten bewundernd nach, die ihnen mit freundlicher Eilfertigkeit zunickt, aber die kleinen purpurrothen Lippen lächelnd dabei aufwirft.
Jetzt geht sie mit ihren Gefährtinnen rechts um die Ecke in die kurze Fährstraße, welche nach der See hinabführt.
Als man an des Thorschreibers Häuschen kommt, zaudert Dorette eine Secunde, kaum aber hat ihr schneller Blick den Vater hinter den Scheiben entdeckt und bemerkt, daß er ruhig das Zeitungsblatt, welches ihm der Herr Bürgermeister wöchentlich einmal schickt, vor sich auf den Knieen hält und darüber hinweg auf's Thor blickt, als sie den Kopf kurz umwendet, wie um zu sagen: „Vorwärts! Es ist Alles in Ordnung!“
Und nun eilen sie durch das alte plump behäbige Fährthor, das sich, blickt man nach der sonnigen Stadt und ihren seit dem Frühling neu aufpolirten Häusern zurück, mit seinen tausend Rissen und Borsten ausnimmt wie ein altes unförmiges Großmütterchen, welches man dicht vor das lachende Haus in den Sonnenschein gesetzt hat, damit ihm die junge Frühlingsluft neckisch über die tiefen Runzeln fahre.
Von der See weht es frisch herauf als die Mädchen hinaustreten. Freundlich drängen sich die Schiffe im leuchtenden Hafen, und breit hat sich die Nachmittagssonne auf der alten Brücke gelagert, sodaß man jeden Spalt, jeden handfesten Nagel, der die braunen Bretter zusammenhält, erkennen kann. Die blauen Wellen plätschern leise durch den Bodden, und am Ufer liegt der Schaum glitzernd, wie aufgerollte Schlänglein.
Der Weg zum Kaffeegarten und zur Wohnung der Muhme Gerhard führt eine Strecke weit links am Ufer entlang, aber Dorette meint, man könnte sich ja zuvor noch einmal auf der Brücke durchsonnen lassen.
An einem der Pfeiler, die am weitesten vom Ufer entfernt sind, ist mit starkem Tau ein Boot befestigt, das verführerisch hin und her schaukelt. Die Mädchen klettern hinein und setzen sich zierlich kokett auf die Bänke; nur Dorette und Johanne Seiler schlendern etwas hinterdrein und wollen, wie es scheint, auf der Brücke bleiben.
Dorette hat ihren Arm nachlässig in den der Freundin geschoben; es sieht aus, als lehne sich ihre hohe, überschlanke Gestalt nicht aus Müdigkeit, sondern aus Träumerei an Johanne's breite Schultern. Träumen liegt sonst nicht in Dorettens Wesen. Möglich, daß es die Frühlingssonne ist, welche das Mädchen verführt, heute so anders zu erscheinen.
Wie sie jetzt hinaus über die Bucht sieht, liegt eine ängstliche Erwartung, eine unruhige Sehnsucht in ihren Augen. Ihre Lippen bewegen sich wie spielend, und wenn sie athmet, scheinen auch sie sehnsüchtig anzuschwellen.
Plötzlich ziehen sich ihre Brauen wie in heftiger innerer Bewegung zusammen: „Ich möchte wissen, wie die Liebe ist!“ denkte sie. – Sie lacht, und dann hört sie auf zu lachen, und lächelt nur mild und leise vor sich hin. Sie sieht, wie sie zu den Füßen eines Mannes sitzt und den Kopf senkt. –
„Halt! Eins, zwei, drei!“ und damit ist sie im Boot, nachdem sie sich mit hastiger Grazie durch das Geländer hindurch gewunden hat.
„Um Gottes willen, Dorette, uns so zu erschrecken!“ rufen die Mädchen.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 798. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_798.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)