verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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No. 49. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
„Vetter, Ihr werdet doch nicht! Will der Hallunke sich vor des Thorschreibers kleiner Bude vorbeischmuggeln! Setzt Euch doch, Vetter! Dorette! Bring' Licht, Mädchen! Man lebt doch keinen Tag hin, daß nicht ein Wunder passirt, wenn man gleich noch so alt wird.“
Dies alles wird in dem freundlichsten Tone von der Welt gesprochen, während die kleine gebückte Gestalt des Thorschreibers bemüht ist, einen großen breitschulterigen Mann hinter sich her in’s Zimmer zu ziehen.
„Ja, Thorschreiber, der soll kein ehrlicher Kerl heißen, der's über's Herz bringen kann, Euer gutes altes Gesicht so links liegen zu lassen. War auch mein Ernst nicht, Alter! Jochen ist eine honnette Haut – ich gehe bis zur Freundschaft mit ihm um – den mag ich schon allein in die Stadt fahren lassen; wir laden doch nicht vor morgen ab.“
Dann wird das Fenster geöffnet, und es heißt: „Fahr' er man zu, Jochen.“
Und nun setzt sich der Inspector Strohmeyer von Ruschwitz dem Thorschreiber gegenüber an den Tisch, und Beide schütteln sich in der Abenddämmerung noch einmal herzhaft die Hände.
Einige Secunden später tritt des Thorschreibers Tochter mit dem gewünschten Lichte in das Stübchen.
„Guten Abend!“ sagt sie leichthin und wirft einen kurzen, scharf beobachtenden Blick auf Strohmeyer.
„Ja – und das ist nun meine Tochter, Strohmeyer!“ spricht der Thorschreiber, und blickt fast ehrfurchtsvoll auf das hübsche Mädchen, dem das zierliche weiße Häubchen so gut zu Gesicht steht.
Dorette ist nie übertrieben zärtlich zu ihm; sie ist wild und eigensinnig und führt eine lose Rede, aber sie ist sein einziges Gut – ist Alles, was ihm von seiner Familie geblieben, und er hat das geweckte Mädchen gut unterrichten lassen. Sie hat alles gelernt, was Johanne Seiler, die reiche Tochter des Bürgermeisters, und die Töchter des Kaufmanns, der dort drüben an der anderen Seite des Stadtthores wohnt, gelernt haben. Er hat seine sauren kleinen Ersparnisse hingegeben, um die wehmüthige Freude zu genießen, sich das Mädchen geistig über den Kopf wachsen zu sehen.
„Sieh, Vetter Thorschreiber, habt Ihr ein schlankes Dirning! Beinah so schön wie Eure Sel'ge war, Thorschreiber.“
„Ja, die Nase ist ihr ein Kleines zu lang gerathen und die Zunge ein Kleines zu spitz, Herr Strohmeyer, aber leidlich schlank mag sie, mit Ihnen gemessen, wohl scheinen,“ sagte Dorette etwas schnell hin und setzte sich neben den Vater.
„Ho, ho!“ lachte der Inspector. „Sieh mal den Krauskopf an! Und mit 'Herr' Strohmeyer bleib mir doch fein vom Halse; ich bin Deines Vaters leiblicher Vetter, der Inspector Strohmeyer von Ruschwitz, und mich dünkt, Niemand ist genöthigt, sich Bedenklichkeiten zu machen, wenn er mich 'Ohm' heißt. Das kommt aber davon, daß man nur alle Vierteljahrhundert von dem verdammten Ruschwitz herunterreist. Zuletzt kennt einen Niemand mehr in der Stadt im Angesicht. Aber für den 'Herrn' laß' Dich nun 'mal ordentlich ansehen, Doring!“
Dabei streckte der alte Inspector die braune Hand nach des Mädchens Arme aus und zog sie etwas näher zu sich heran.
„Hübsch genug zum Küssen, Herr Oheim?“ fragt das Mädchen nach einer Weile gegenseitigen Anstarrens spöttisch. „Weswegen Ihnen nicht in den Sinn zu fahren braucht, daß ich Lust hätte, Sie mit Küssen zu tractiren,“ setzt sie schnell hinzu, als Strohmeyer Miene macht, die Sache zu probiren.
„Ja, nun hör' mir einer das gottvergess'ne Kind an, solch gottvergess'nes Mädchen!“ meinte der Thorschreiber lächelnd.
„Ein Teufelskind ist sie!“ schreit der Inspector und schüttelt sich vor Lachen, als ihm Dorette jetzt gewandt entschlüpft. „Wär' ich dreißig Jahre jünger, kämst Du mir nicht so davon.“
„Gut für Sie, daß Sie’s nicht sind!“ sagte sie stolz.
„Hör' das einer an! Du hast wohl schon einen Galan und künft'gen Eheherrn? Hahahaha!“
Dorette antwortet nicht; sie krümmt nur etwas verächtlich die Lippen, und um ihre feinen Nasenflügel zittert es einen Moment wie Spott und seltsame Leidenschaftlichkeit; denn sie denkt eines gewissen Herrn Putzbach, den der Thorschreiber nicht ungern als Eidam sähe und dem Dorette auch unfehlbar ihre Hand reichen würde, wäre sie wie andere fromme Bürgermädchen, denen des Vaters Wunsch Befehl ist.
„Wenn ich mein Johannes wär',“ sagt der Inspector, „ließ ich Dir das nicht so kaltblütig hingehn.“
„Ja, Vetter, sagt doch 'mal: Euer Johannes!“ fängt nun der Thorschreiber an.
„Ja, ja, mein Johannes,“ spricht Strohmeyer schmunzelnd, halb vor sich hin, halb zum Alten ihm gegenüber, und die Freude giebt seinem breiten, sonst etwas schlauen Gesicht ein unschuldiges Ansehen. „Was glaubt Ihr, Vetter Thorschreiber? Eines Inspectors Sohn, des alten Strohmeyer’s von Ruschwitz Sohn und
verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1880, Seite 797. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_797.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2021)