Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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während die Tochter seine Hand umfangen hielt und den Kopf tief auf sein Lager gedrückt hatte.
In der lautlosen Stille, die um den Sterbenden herrschte, hörte man jetzt die Hausthür sich öffnen; leise Schritte nahten dem Zimmer und traten geräuschlos ein, aber der Zugwind, der durch das geöffnete Fenster hereintrieb, schlug die Thür hart hinter dem Kommenden zu. Es war Jonathan, der nach dem Kranken sehen wollte. Mauer öffnete bei dem entstandenen Geräusche die Augen wieder und sah wie abwesend empor, als kenne er Jonathan nicht mehr. Auch Carmen blickte auf, da sie aber Jonathan sah, vergrub sie ihr Gesicht sogleich wieder in die Kissen des Bettes; denn es widerstand ihr auf’s Höchste, jetzt gerade mit diesem da reden zu müssen. Knieend zwischen dem Bette und der Wand, von welcher jenes ab und gegen das Fenster gerückt worden war, verschwand ihre Gestalt ungesehen in dem Dunkel des tiefen Schattens.
„Bruder Michael, ich bin soeben erst vom Lande wieder nach Haus gekommen und höre da, daß Du krank geworden bist. Was fehlt Dir?“ fragte jetzt Jonathan.
Bei dem Klange dieser doch so ruhigen Stimme fuhr der Sterbende zusammen, wie wenn Entsetzen ihn schüttele. Er starrte ihn mit großen Augen ängstlich an.
„Bruder Jonathan,“ sagte er, „nun ist das Ende da, und die alte finstere Geschichte soll sich mit mir in’s Grab legen, damit sie endlich ruhen kann. Ich weiß, daß ich schwer gesündigt habe, aber mit einem Leben voll Reue und furchtbarem Leid habe ich gebüßt – diesen Mord eines wehrlosen Weibes.“
Jonathan blickte den alten Mann, während dieser so zu ihm sprach, scharf und forschend an. Das Licht der Lampe zeigte ihm die veränderten Züge desselben, und er sah deutlich die Schrift des ganz nahen Todes darauf geschrieben. Er erfaßte seine Hand – der Puls war kaum mehr zu spüren. Er erkannte sehr wohl: hier war keine Möglichkeit mehr vorhanden, das Leben zu erhalten – jeder kommende Augenblick mußte es verlöschen. Da brach Haß, Rache, Hohn in Jonathan aus und blitzte unverhüllt in den grauen Augen, die sich fest und gierig auf sein Gegenüber hefteten.
Zwanzig Jahre lang hatte er diesen Mann gehaßt, wie nichts Anderes auf der Welt, und er hatte ihm doch Liebe heucheln müssen, zwanzig Jahre – was will das sagen bei heißen, gährenden Leidenschaften!
Jetzt endlich war der Zeitpunkt gekommen, wo sein langjähriger Feind ihm nicht mehr zu schaden vermochte, wenn Jonathan nun vor ihm sein Visir aufschlug, ihm sein wahres Antlitz zu zeigen; jetzt war es an der Zeit, seiner Rache die Krone aufzusetzen, ehe jener ihm für immer unerreichbar entfloh.
Nur flüchtig ließ Jonathan die grauen, jetzt so stechenden Augen über das stille, düstere Gemach gleiten, um sich zu überzeugen, daß er allein mit Mauer sei – er erblickte Niemand weiter. Nur das gedämpfte Licht der Lampe zeigte die todtenfahlen Gesichtszüge des Sterbenden auf den weißen Kissen. Wer sollte auch noch da sein? Die alte Ursula, die einzige Mitbewohnerin des Hauses, hatte er draußen in der Küche jammernd und weinend beschäftigt gesehen.
Jonathan wußte sich allein mit dem Sterbenden – – er ließ seinen wilden Leidenschaften freien Lauf.
„Mord Deines Weibes?“ fragte er höhnisch. „Thor, wegen der Tropfen, die Du ihr gereicht, könnte sie heute noch leben, wenn sie sonst noch zu retten gewesen wäre. Thomas hatte in der Eile und Hast, womit Du und der andere Mann in jener Nacht bei mir zum Fortkommen drängtet, aus Versehen die Fläschchen vertauscht, und das, welches Du mit Dir genommen, enthielt unschuldige, krampfstillende Tropfen für ein halbjähriges Kind – Schwester Julie hätte das ganze Fläschchen austrinken mögen, ohne daß es ihr hätte schaden können.“
Mauer’s Blicke irrten unsicher über den Sprechenden hin; es lief ein Zittern über seinen ersterbenden Körper, und sein Geist mühte sich, den Nebel des Unbegreiflichen zu durchdringen.
„Ich, ich hätte Julien nicht getödtet, und Du, Du wußtest es und sagtest mir es nicht?“ stammelte er ungläubig, mit fast versagender Stimme.
„Gewiß wußte ich es, aber hast Du mich darnach gefragt?“ entgegnete Jonathan triumphirenden Tones. „Der Mann war vorsichtiger als Du gewesen und hatte erst die Aufschrift des Fläschchens gelesen, ehe er seinem Kinde davon gab, und da er Deinen Namen darauf sah, brachte er dasselbe eiligst zurück. Freilich waren beinahe zwei Stunden darüber vergangen, ehe er wieder bei mir sein konnte. Thomas mußte ihm sein Medicament nochmals bereiten; dann nahm ich die Opiumtropfen für Schwester Julie und schwang mich damit in den Sattel meines Pferdes. Denn, obgleich ich wußte, daß die Kranke nicht mehr zu retten sei, wollte ich doch meiner Schuldigkeit als Arzt nachkommen und versuchen, was ich noch für sie thun könne, das Versehen meines Thomas gut zu machen. Aber ich fand sie schon todt, ja, sie mußte allen Anzeichen nach schon vor mehreren Stunden gestorben sein. Als ich bei meiner deshalb erstaunten Frage, wie das mit den Tropfen zugegangen sein könne, Dein verstörtes Gesicht sah und Du erbleichend ohnmächtig wurdest, hielt ich Dich für ergriffen von dem Tode Deines Weibes und kam nicht entfernt auf den Gedanken: in böser Absicht habest Du ihr die doppelte Anzahl der Tropfen gegeben, welche Du doch für betäubend hieltest. Ich steckte das Fläschchen nur darum zu mir, damit das Versehen, welches Thomas verschuldet, nicht ihm und Dir selbst noch unnütze Vorwürfe bereite – es war ja nun doch nichts mehr daran zu ändern. Aber, Michael,“ rief Jonathan, plötzlich wild und leidenschaftlich, „als ich an Don Manuel’s Sterbelager stand und dort sich Deine sündliche Liebe für Inez mir enthüllte, der doch Dein Weib im Wege gestanden, da wurde mir plötzlich Alles klar.“
„Du hast davon gewußt, Bruder Jonathan, daß ich mein Leben ohne Ursache mit der furchtbaren Selbstanklage vergiftete, und dennoch hast Du sie mit keinem Wort der Aufklärung von mir genommen?“ stöhnte der Unglückliche.
„Das wundert Dich noch? Weißt Du denn nicht, was Haß ist? Du wußtest, daß auch ich Inez geliebt – dachtest Du nicht, wie ich Dich hassen müsse, der Du sie mir geraubt?“ rief Jonathan kalt und erbarmungslos. „Ja, ich habe es gewußt, daß Du Dich für einen Mörder hieltest und es doch nicht warst; es war mir eine Wonne zu sehen, wie dieser Wahn Dich marterte; es war mir ein Genuß, Dich immer an Dein vermeintliches Verbrechen zu erinnern, Dich in meiner Hand zu halten, wie den zuckenden Schmetterling an der Nadel, welcher er nicht wieder entrinnen kann und die ihn nur langsam tödtet. Denkst Du, ich hätte Dein Verbrechen nicht vor’s Gericht gebracht? Sicher – wenn ich nur gekonnt hätte. Aber Thomas!! der wußte um die geschehene Verwechselung; er lebte, war bei mir in der Mission und jetzt auch hier – er würde gegen mich gezeugt haben, wollte ich diese falsche Anklage erheben. Aber ich habe mich doch zu rächen gewußt, zu rächen dafür, daß Du mir Inez’ Liebe geraubt und Carmen’s Hand versagst hast: Dein Leben mußte wegen Inez büßen, Dein Tod Carmen berauben; denn um Deines vermeintlichen Verbrechens willen hast Du ihr Dein Gut entzogen und es der Gemeine vermacht. So stirb denn zuletzt noch mit dem Bedauern, ein ganzes Leben in unnöthiger Reue vergeudet zu haben – Dein stiller Mund nehme nun die alte Geschichte und ihre Enthüllung unwiederbringlich mit in Dein Grab hinab! Ich aber will auf demselben mit dem Triumphgefühl stehen, daß mein Fuß es war, der Dich zertreten hat.“
Er schwieg. Die Arme in einander geschlagen, stand er da und sah frohlockend auf Mauer nieder. Er bemerkte gar nicht, daß sich im Dunkel zwischen Bett und Wand ein Haupt erhoben hatte. Jetzt wuchs dort plötzlich eine dunkle Gestalt schattenhaft empor, und jählings erblaßte er.
„Inez!“ keuchte er und prallte zurück.
„Nein, Carmen, die jedes Eurer grausamen Worte vernommen hat, damit dieser erkaltende Mund Euer fluchwürdig Handeln nicht in das stumme Grab mit hinab nehme. Elender, Teufel in Menschengestalt! Kann denn die Erde solchen Abschaum von Schlechtigkeit tragen, und hat der Himmel keinen Blitz, ihn zu vernichten? O Vater, mein armer, gepeinigter Vater! Es giebt kein Wort, das zu sagen vermöchte, was Du gelitten hast durch Diesen da.“
Und sie warf sich wieder über das Lager und schlang weinend die Arme um den Theueren. Wie leuchtete es aber jetzt auf diesem blassen Antlitz von himmlischem Frieden und Verklärung! Mit plötzlich wunderbar gewonnener Kraft raffte sich der Sterbende in seiner Tochter Armen empor, erhob die Hände und rief voll seliger Freude:
„Kind, freue Dich und preise den Herrn mit mir; denn Dein Vater kann nun rein von dieser Schuld vor seinen Richter treten. Gelobt sei Gott dafür in Ewigkeit – Amen!“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 779. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_779.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)