Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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Erbitterung, zu bedauern ist aber, daß sich allzu eifrige Anhänger des großen Künstlers haben bereit finden lassen, auch aus den Paradoxen des Meisters Dogmen zu machen. An und für sich schließen das Verständniß Wagner’s und die Liebe zu ihm eine gleiche und größere zu andern Meistern der Gegenwart und Vergangenheit nicht aus. Wagner selbst hängt mit der ganzen ihm innewohnenden Gluth an dem Schaffen der alten Meister und findet in ihren Werken die Wahrheit und die Nothwendigkeit, die er der neueren Production im Allgemeinen abspricht. Und wenn er in seinem sehr lesenswerthen Schriftchen „Ueber das Dirigiren“ die Musikpraxis der Gegenwart der Flüchtigkeit beschuldigt und Personen und Zustände hart geißelt, so thut er dies gerade im Hinblicke auf die Meisterwerke der Alten. Von dieser seiner echten Pietät und Begeisterung für die Classiker hat er auch als Dirigent sehr positive Beweise gegeben. Unter seiner Leitung hat es den Musikern oft geschienen, als ginge ihnen jetzt erst der Sinn einer altbekannten Composition auf. Als er vor etlichen Jahren mit dem Wiener Hofopernorchester die Freischütz-Ouverture zu „studiren“ begann, schien das sehr auffallend und unnöthig. Hinterdrein aber wurde beschlossen, das gleichsam neuentdeckte Stück fortan nur „Wagnerisch“ zu geben.
Mit Beethoven’s Sinfonien ging es in etlichen Großstädten ähnlich, und wenn man sich auch gegen Wagner’s Textredactionen aussprechen muß, so sind doch die Gründe seiner Aenderungen hochachtbar und frei von Willkür.
Es stände schlimm, wenn Wagner der einzige Meister wäre von diesem Verständniß für die Alten und der Fähigkeit es Andern mitzutheilen. Aber Männer seiner Art sind dennoch selten, und für einen gereiften Kunstjünger ist es ein Glück, an der Hand Wagner’s das Museum der musikalischen Meisterwerke zu durchschreiten; hundert Dirigenten aus der unmittelbaren Schule des Meisters – und der Musik im deutschen Vaterlande wäre wesentlich geholfen. Dies war der Gedanke, der die Freunde Wagner’s bewog, die Gründung einer Baireuther Stilbildungsschule in Aussicht zu nehmen. Wünschen wir diesem Projecte das beste Gedeihen!
Eine Versammlung von mehreren Hundert Personen, mit der Erledigung der wichtigsten und schwierigsten Geschäfte beauftragt, bildet einen Mechanismus, der bis in’s Kleinste geordnet sein muß, wenn die Lösung der gestellten Aufgaben nicht aussichtslos erscheinen soll. Die Nothwendigkeit einer solchen Ordnung ist in noch höherem Grade vorhanden bei einer parlamentarischen Körperschaft, deren Mitglieder nicht nach ihrem Werthe gewogen, sondern nur gezählt werden. Innerhalb der vier Mauern des Parlamentes giebt es keinen anderen Rang, als den eines Abgeordneten, und neben dem zu gänzlicher Bedeutungslosigkeit herabgesunken Doctortitel hat der Parlamentarier als solcher keinen Anspruch auf irgend ein im bürgerlichen Leben ihm zustehendes Prädicat. Der Minister und der Amtsrichter, der fürstliche und der bäuerliche Grundbesitzer, der Commerzienrath und der Cigarrenarbeiter, sie Alle sind in ihrem volksvertreterischen Berufe nichts als „Abgeordnete“. Auf diese Weise bildet die gesetzgebende „Elite der Nation“, unbeschadet der Berechtigung zur Führung dieses Ehrentitels, eine Gesellschaft, wie sie gleich „gemischt“ in keiner anderen öffentlichen Versammlung zu finden ist.
Und doch könnte diese gemischte Gesellschaft als eine Verwirklichung des socialistischen Gleichmacherei-Ideals gelten; denn so bereitwillig auch das bessere Wissen, das größere Geschick und das höhere Verdienst einzelner Koryphäen anerkannt wird, würde es doch nie und nimmermehr Jemandem einfallen, irgend einem Abgeordneten auf Grund der eben genannten Vorzüge mehr einräumen zu wollen, als eine einzige Stimme. Bei den Abstimmungen wird eben nur gezählt, und wer in der Minderheit geblieben ist, schätzt darum das Gewicht seiner Stimme um nichts geringer, als eine Stimme aus dem obsiegenden Theile. Der Stahl’sche Ausspruch „Autorität, nicht Majorität“ ist aus dem bewußten Gegensatz zum Parlamentarismus hervorgegangen und kann keinen schärferen Gegensatz als den Parlamentarismus jemals finden. Gleichwohl sind gesetzgebende Körperschaften nicht in der Lage, der Autorität im Stahl’schen Sinne gänzlich entbehren zu können; denn die Majoritäten schwanken, und wer heute in der Mehrheit ist, muß doch darauf bedacht sein, auch der Minderheit Rechte einzuräumen, schon weil er selbst sehr bald die bittere Frucht der Rechtlosigkeit zu kosten bekommen könnte.
Es liegt im Wesen des Parlamentarismus, daß die Mehrheit immer Recht haben muß und daß sie bestimmen darf, was Rechtens sein soll. Hier ist ein gewisses Gegengewicht einzuschalten, wenn man nicht haben will, daß von heute zu morgen mit den Majoritäten auch das Recht wechsele. Dieses Gegengewicht bietet die Geschäftsordnung, welche zu einem Theile dazu dienen soll, die äußeren Formen des Berathungsverfahrens festzustellen, zum anderen, wesentlicheren Theile aber den Zweck hat, die Minoritäten zu schützen. Dem Schutze der Minoritäten dient auch eine gewisse Tradition, welche ungeschrieben die Geschäftsordnung ergänzt. Allerdings giebt es auch eine Tradition, welche ungeschrieben die Geschäftsordnung durchbricht, und hierin ebenso wie in dem leidigen, unvermeidlichen Umstande, daß es doch immer die Mehrheit ist, welche die Geschäftsordnung handhabt, liegt die gar nicht abzuweisende Gefahr, es möchte in erregten Zeiten der Schutz der Minorität sich als wirkungslos erweisen.
Im Großen und Ganzen aber hat in den Parlamenten Deutschlands und Preußens noch immer ein guter Sinn für Gerechtigkeit geherrscht, und hier wäre die Klage nicht berechtigt, welche einmal in trüber Zeit im österreichischen Abgeordnetenhause laut wurde: daß Billigkeit nur noch vom Zufall des Looses erwartet werden dürfe.
Dieser trübe Gedanke schwebte wohl den ersten Schöpfern der modernen parlamentarischen Ordnung vor; denn das ganze System der vorberathenden Commissionen baut sich auf den sieben Abtheilungen auf, deren Zusammensetzung einzig das Loos bestimmt. Am ersten Tage einer Session würfelt die unbestechliche Urne die Namen sämmtlicher als anwesend gemeldeten Abgeordneten durch einander und theilt sie möglichst gleichmäßig den sieben Abtheilungen zu, welche nach dem Buchstaben der Geschäftsordnung die engeren Wahlkörperschaften des Parlamentes bilden. Schon bei der Constituirung der Abtheilungen selbst zeigt sich jedoch, daß über der scheinbaren Souveränetät der letzteren eine geheimnißvoll dirigirende Macht steht; denn seltsamer Weise trifft es sich stets, daß die vierzehn Männer, welche als Vorsitzende und stellvertretende Vorsitzende an der Spitze der sieben Abtheilungen stehen, in reducirtem Maßstabe genau das Stärkeverhältniß der parlamentarischen Parteien ebensowohl im Reichstage wie auch im preußischen Abgeordnetenhause wiedergeben, und daß die schwächsten parlamentarischen Gruppen bei den vierzehn Schriftführerposten der Abtheilungen einen Ersatz finden für ihre Ausschließung von den bevorzugteren Ehrenstellen. Wie viele Abtheilungsschriftführer dazu gehören, um einen Abtheilungsvorsitzenden aufzuwiegen, und in welchem Werthverhältnisse die Vorsitzenden und ihre Stellvertreter zu einander stehen – das ist ein Capitel aus der Lehre von den Imponderabilien, zu dessen Ergründung Niemand berufen ist, der nicht den culturhistorischen Arbeiten des Senioren-Convents einmal beigewohnt und daran Theil genommen hat.
Der Senioren-Convent ist nämlich jene geheimnißvoll dirigirende Macht, die sich in unverbrüchlicher Tradition das Amt angemaßt hat, über die parlamentarischen Ehrenstellen zu verfügen. Kein Paragraph der Geschäftsordnung kennt den Namen des Senioren-Convents; es fehlt ihm jeder officielle Charakter, und doch entscheidet er inappellabel über alle Einrichtungen, welche der tägliche Bedarf der gesetzgebenden Körperschaften erfordert. Er besteht aus je zwei bis drei Vertretern jeder Fraction, und zwar nicht, wie der Name vermuthen lassen könnte, aus den ältesten, sondern vielmehr aus den erfahrensten und schneidigsten Mitgliedern der Fractionen.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 752. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_752.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)